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»Komm, Kleiner, setz dich zu mir.« Segelmacher-John rutschte zur Seite und klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich. Er begann, den überflüssigen Stoff abzutrennen.

»Und wie gefällt es dir auf unserer großen Reise?«

Seth zögerte. »Na ja.«

»Was meinst du damit?«

»Es ist ein bisschen, na ja, halt ein bisschen langweilig.«

»Da fahren wir nun seit Wochen immer wieder in der Nähe der Küste entlang und dürfen Täler, Hügel, Steppenlandschaft und nun auch die Anden in ihrer Größe erleben. Und neulich, als wir inmitten der Wildnis angelegt haben, um die Vorräte aufzufrischen, da haben die Gentlemen von ihrem Landgang Pflanzen mitgebracht, die in der Heimat noch kein Mensch gesehen hat. Sie haben Vögel geschossen, deren Namen niemand kennt. Erinnerst du dich? Einige davon haben wir verspeist. Wie kommt es, dass du dich langweilst? Müsste das für einen Jungen in deinem Alter nicht eher ein Abenteuer sein? Ein großes, aufregendes Abenteuer?«

Seth schaute Segelmacher-John an. »Woher weißt du das alles?«, platzte es aus ihm heraus.

»Na, ich habe doch Augen im Kopf.« Er packte ein Lederbändchen, das er um den Hals trug, und zog unter seinem Hemd einen kleinen Beutel hervor. »Hier drin ist Augenwurzel, das schützt die Sehkraft. Die ist wichtig für meine Arbeit. Oder hast du schon mal einen Blinden mein Tagewerk verrichten sehen?«

»Nein, natürlich nicht«, antwortete Seth gehorsam und rutschte ein Stück vom Segelmacher ab, besorgt, er könne die Lüge spüren.

»Siehst du.« Segelmacher-John klang zufrieden, als er nach der Jacke griff. Die Stoffreste der Hose legte er beiseite. »Und, hast du gestern von dem Hai gegessen, den man gefangen hat?«

Seth schüttelte den Kopf. »Nein«, ergänzte er. »Der roch widerlich.«

Segelmacher-John hatte bei seiner letzten Frage die Stimme gesenkt. Wenn er das tat, fasste er meist Ungeheuerliches in Worte. Nun hieß es, sich vorzubeugen, die Luft anzuhalten und aufmerksam zu lauschen, um ja kein Wort zu verpassen.

»Mach das bloß nicht«, sagte er leise.

»Was?«, flüsterte Seth.

»Fleisch vom Haifisch zu essen.«

»Warum?«

»Haie fressen Menschen, das weißt du. Und vielleicht ist hier irgendwann, irgendwo ein Schiff gekentert. Verstehst du?«

Seth schüttelte den Kopf.

»Na, vielleicht hat der Hai Menschenfleisch gefressen.«

»Ja, und?«

»Na, wenn der Hai einen Menschen gefressen hat und du diesen Hai isst, dann isst du ja Menschenfleisch.«

Das war ein beeindruckender Gedanke. Eine Gänsehaut lief Seth über die Arme, und er rückte wieder näher an Segelmacher-John heran.

»Na, sieh mal, wer da kommt.« Segelmacher-John deutete mit dem Ellenbogen nach links.

Lukas kam den Gang heruntergelaufen. »Wo ist dein Bruder?«, rief er schon von Weitem.

Seth zuckte die Schultern und schlüpfte in die Hose, die ihm Segelmacher-John entgegenhielt.

»Vielleicht bei seinem Affen.«

»Na, auch egal.« Lukas packte ihn am Ärmel. »Komm schnell, ich zeig dir was.«

»Herrlich«, griente Segelmacher-John vor sich hin. »Kinder und Weibsvolk sind wie das Meer: Sie schweigen nie.«

Seth klammerte sich in den Wanten fest, dass die Taue in seine Handinnenflächen schnitten. Der Wind riss an der Jacke, doch er wollte nicht ein Stück weiter in die Tiefe klettern. Er wollte alles sehen. Ganz genau. »Terra de Fueko«, brüllte er in den Wind und verschluckte sich daran. Er hustete und hörte, dass Lukas, der auf seine Höhe geklettert war, kicherte.

»Tierra del Fuego heißt das. Land des Feuers. Magellan hat die Inseln so getauft, als er hier vorbeisegelte.«

Seth blinzelte und schaute zu Lukas hinüber. Woher wusste er das alles? Und wer war dieser Magellan? Er sagte nichts und ließ sich wieder vom Anblick der düsteren Bergketten in den Bann ziehen. Schwarzgraue Wolken hingen so weit hinab, dass es den Eindruck erweckte, sie wollten die Gipfel der Berge verschlingen.

»Er hat die Küste Tierra del Fuego genannt, weil er einzelne Feuer über die Berge hinweg verteilt sah. Die Bewohner sind Nomaden, die haben keinen festen Wohnsitz. Sie ziehen mit ihrem Hab und Gut umher, und so kann man Lagerfeuer an vielen verschiedenen Orten sehen. Das ist nicht so wie bei uns, wo man sich in einem Dorf zusammenrottet, nie weiterkommt als bis zum Rand des eigenen Feldes und dem nächstgelegenen Marktplatz.«

Die Berggipfel waren mit weißleuchtendem Schnee und eisgrauen Gletschern bedeckt, die sich scharf gegen die dunklen Felsen absetzten. Die Wolkendecke riss auf, und Sonnenlicht fiel in einzelnen Strahlen aufs Wasser.

»Es soll Menschen geben, die verlassen ihr Dorf nie. Sie werden dort geboren, in der Enge, und dort sterben sie auch. Nichts sehen sie von der Welt. Ob sie wissen, was sie versäumen?«

Seth schüttelte den Kopf und stimmte Lukas in Gedanken zu. Der Seesoldat war schlau, und er konnte den Dudelsack spielen, dass einem das Herz schwer wurde. In den letzten Wochen hatte er selten musiziert, doch vielleicht würde sich das ändern, sobald sie wieder Land betraten. Vom Deck her erscholl mehrstimmig das erste Lied, das die Männer anstimmten. Gleichzeitig begannen die beiden den Abstieg.

***

Im Grunde waren sie nackt. Zumindest so nackt, dass Mary errötete und in den Wipfel eines Baumes hinaufsah. Du hast gewusst, dass die Einwohner Feuerlands ohne Kleidung herumlaufen, rügte sie sich, senkte den Blick und musterte verstohlen eine Frau. Immerhin trägt sie ein Seehundfell um die Schultern, und einen Lendenschurz aus Leder hat sie um die Hüften geschlungen. So schlimm ist das doch nicht. Die Stimme in ihrem Kopf hatte einen beschwichtigenden Ton angenommen, den Ton einer Mutter, die ein verschrecktes Kind zu trösten versucht.

Zwei Männer kamen ihnen mit ausholenden Gebärden entgegen. Die Männer, rief eine andere Stimme in ihrem Kopf, heller und aufgeregter als die bisherige.

Ja, was ist mit ihnen?, entgegnete die mütterliche Stimme, im Ton gereizter.

Sie haben keinen Lendenschurz. Ihr Gemächt baumelt zwischen ihren Schenkeln herum! Bei jedem Schritt.

Stell dich nicht so an, du bist Wissenschaftler!

Ja, ich weiß, dass viele Völker dieser Welt nackt oder halbnackt durchs Leben laufen.

Hier hast du die Rousseau’sche Lehre sichtbar vor Augen! Den Beweis für seine Theorie, dass der Mensch nur im Naturzustand glücklich sein kann. Die mütterliche Stimme war zu einem wütenden Zischen geworden. Es ist doch in der Theorie oft genug behandelt worden, das Bild vom Edlen Wilden.

Das hier ist keine Theorie mehr, und falls doch, bewege ich mich inmitten dieser Theorie. Und ich kann nicht sagen, ob diese Menschen glücklich sind, aber sie sind so nackt und haben eine enorme physische Präsenz.

Eine Hand legte sich auf Marys Arm, dunkle Finger spielten über den wollenen Stoff ihrer Jacke hinweg. Erschrocken zuckte sie zusammen, schob die Stimmen beiseite und blickte um sich.

Die Eingeborenen umringten die Ankömmlinge, rückten näher und zerrten an der Kleidung, an den Haaren und an den Musketen der Seesoldaten. Drängten die Mannschaft in Richtung zweier Hütten, die in unmittelbarer Nähe im Windschatten einer Felsengruppe errichtet waren. Aus Ästen war ein Geflecht gebogen worden, ein Halbrund, das mit Reisig und Seehundfellen bedeckt war. Spartanisch und kaum als ernstzunehmender Schutz gegen die kühle Witterung zu verstehen.

Einer der Männer trug einen Korb bei sich, der aus Zweigen geflochten war. Kleine Holzspieße, die offensichtlich zum Fischen dienten, schauten daraus hervor. Aus der Tiefe des Korbes hob er einen Fisch, deutete eine Essbewegung an und zeigte zur Hütte hinüber.