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»Wenn der uns jetzt erkrankt, müssen wir sofort umkehren«, sagte Mary leise und brach vertrocknetes Astwerk aus einem kniehohen Busch.

Carl nickte und schaute zum Himmel hinauf. Es hatte sich zugezogen, die Wolken ballten sich zu einer weißen Wand. Es war merklich kälter geworden. »Du hast recht, Marc, und wenn es jetzt noch zu regnen beginnt«, er ließ den Blick über die Umgebung schweifen, in der die Buchen sich zur höchsten Erhebung aufspielten, »dann finden wir nicht einmal einen Unterstand. Nehmen wir die Plane zum Schutz, werden wir vom Morast unter uns durchnässt.«

»Es kommt sogar schlimmer«, antwortete sie und hielt Carl ihren rechten Arm entgegen. Auf dem dunklen Stoff lag eine kristallene Schneeflocke, die langsam schmolz. Gleichzeitig schauten sie auf. Vor der weißen Wolkenwand tanzten vereinzelte Flocken zum Boden herab.

»Wir müssen zum Schiff zurück. Sofort«, rief Carl, und beide liefen los, dem Lager entgegen. Immer schneller, immer dichter fielen die Flocken. Schwer von Feuchtigkeit, durchnässten sie in kürzester Zeit das Haar und die Kleidung. Der Wind fuhr in die Nässe und ließ Carl schaudern. Kaum, dass sie das Gepäck wieder verschnürt hatten, lag eine geschlossene Decke Schnee.

Nochmals schickte er einen Blick gen Himmel. Das Weiß der Wolkenwand war in ein beunruhigendes Dunkelgrau übergegangen. War das die Dämmerung, die hereinbrach, oder kündigte sich ein länger anhaltendes Schneetreiben an?

Ein Tippen auf seiner Schulter ließ ihn aus seinen Gedanken auffahren.

»Randy kann nicht mehr«, sagte Mary und deutete hinter sich.

»Wer?« Für einen Augenblick war Carl desorientiert.

»Der Midshipman. Von dem wir dachten, er würde erkranken.«

»Was heißt hier ›dachten‹? Ist er erkrankt, oder ist er nicht erkrankt?«

Mary krauste die Stirn. »Nein, er hat unsere Rumvorräte vernichtet und ist schlichtweg betrunken.«

Bartholomäus stand neben Randy Hall, nahm ihm das Gepäck ab und warf es sich auf den Rücken. Er bot dem Midshipman, der inzwischen schwankte wie die Bäume im Schneetreiben, seinen Arm.

»Verdammt, wer hat uns den mitgegeben?«, fragte Carl und presste sich die Finger auf die Augenbrauen.

Sie zuckte mit den Schultern. »Sohnrey hatte sich für Bartholomäus ausgesprochen. Verwundert hat es mich durchaus, dass ein angehender Offizier für die Exkursion freigestellt wurde, also nahm ich an, Randy interessiere sich wirklich für unsere Arbeit. Wer weiß, wer den armen Teufel dem Kapitän anempfohlen und damit ihn wie auch uns in diese Situation gebracht hat.«

Carl hob den Arm und gab Bartholomäus ein Zeichen. Sie liefen los. Laut schmatzten die Schritte im Morast.

Auf dem Hinweg waren sie über den Bergkamm gewandert, an Büschen vorbei und über Geröll hinweggestiegen. Doch nun liefen sie seit geraumer Zeit durch einen pfadlosen Wald. Carl fiel auf, dass es in dieser Gegend lediglich sechs Baumarten gab, wobei eine Buchenart dominierte. Irritiert schüttelte er den Kopf, dass ihm selbst in dieser misslichen Lage derlei Details nicht entgingen. Doch er konnte nicht umhin, diese Erkenntnisse flogen ihm zu, und wenn er in sich hineinspürte, gab ihm die Flucht in gedanklich vertrautes Terrain ein wenig Trost.

Der Boden war wieder fest, was das Vorankommen keinen Deut erleichterte, denn derweil kämpften sie sich durch dichtes Unterholz. Zweige schlugen ihnen in die Gesichter, die Kleidung verfing sich in dornigem Buschwerk, und die Dunkelheit nahm zu.

Mary schloss zu ihm auf. »Wir haben den Weg verloren«, stellte sie unumwunden fest.

Carl nickte und spürte die Unruhe in seinem Leib. »Ich weiß.« Seine Schultern sackten herab.

Der Wind wurde schärfer.

***

Die Glocke schlug acht Glasen, der selige Ruf, dass die Wachschicht beendet war. Ob er noch einen Landgang unternehmen sollte? Seths Füße und Finger schienen zu Eiszapfen gefroren zu sein, seine Nase lief ununterbrochen. Er beschloss, an Bord zu bleiben, unter Deck würde es zwar stinken, aber es wäre wenigstens warm.

Die Luke wurde aufgestoßen, und Dan hastete an Deck. Er warf die Luke zu, und das dumpfe Krachen verriet, dass er jemanden getroffen hatte. Hastig schaute Seth sich um. Vater hielt sich am Fockmast auf. Dan würde ihm direkt in die Arme laufen. Ein zufriedenes Grinsen zog über sein Gesicht. Er verharrte auf der Mars, um einen besseren Überblick zu behalten.

Die Luke vom Niedergang öffnete sich. Nat erschien. Die Hand auf den Kopf gepresst, folgte er Dan. »Du Schwein«, brüllte er. »Wo ist der Affe?«

Seth erkannte die Stimme kaum. Nein, er konnte sich nicht erinnern, seinen Bruder jemals derart wütend erlebt zu haben.

Dan wandte sich im Laufen um. »Ich habe das Scheißvieh nicht angerührt«, rief er.

Er sieht nicht, dass er Vater in die Arme rennt, jubilierte es in Seth. Ja, jetzt hat er ihn. Wie er ihn am Ohr reißt, herrlich! Das kenne ich, das tut höllisch weh.

Nat bremste ab, als er den Vater bemerkte. Doch der winkte ihn heran, und sofort verschwand das rechte Ohr des Sohnes in seinem Klammergriff. »Ihr könnt von Glück reden, dass der Kapitän gerade nicht an Deck ist. Sonst hätte es ein Donnerwetter gegeben.«

Dan begann zu heulen. Das Ohr sah aus, als wäre es inzwischen doppelt so lang gezogen.

»Also, was ist hier los?«

Keiner der beiden sagte etwas. Seth wurde unruhig und verließ die Mars, er musste Nat beistehen. Der Vater hatte die Hände voll, er konnte nicht auch noch nach ihm greifen. »Dan war gestern am Käfig von dem Affen«, rief er und lief ihnen entgegen.

»Ja, und?« Es war nicht zu überhören, dass der Vater ungeduldig wurde.

»Na, jetzt scheint der Affe weg zu sein.«

Nat biss sich auf die Lippen.

»Ich habe das Vieh nicht angerührt«, schluchzte Dan, und Seth genoss den Anblick seiner Tränen.

Vater stieß ihn von sich und versetzte ihm eine Ohrfeige. »Verschwinde«, sagte er. »Und wenn ihr hier noch mal so einen Wirbel macht, kommt ihr mir nicht so einfach davon.«

Nat gab er eine Kopfnuss. »Das war für den Bockmist. Und du, Seth, wenn du keine Beweise hast, halte dich zurück mit deinen Unterstellungen. Es ist nicht rechtens, über jemanden zu urteilen …«

Der Vater stockte und blickte Nat an, dessen Augen glasig glänzten. Für einen Moment blieb seine Hand auf Nats Schulter liegen. »Und jetzt schnapp dir deinen kleinen Bruder, die Petze«, sagte er leise zu ihm, »und sucht in Gottes Namen dieses Vieh, wenn es dir so viel bedeutet.«

***

Der Riemen der Tasche schnürte sich in Carls Schulter, und seine Rückenmuskulatur brannte vor Erschöpfung. In seiner Stirn setzte das leise Summen ein, das den nahenden Schmerz ankündigte. Er, der Leiter der Expedition, hatte die Orientierung verloren. Sein Herzschlag beschleunigte sich, und seine Hände wurden feucht.

»Es scheint mir das Beste zu sein, dass wir uns eine geschützte Stelle suchen, nochmals ein Feuer entzünden und versuchen, dort die Nacht zu verbringen«, sagte Mary mit unerschütterlicher Ruhe.

»Marc«, setzte Carl an und verbat sich den Impuls, sie bei ihrem Vornamen zu nennen, sich mit ihr als Frau zu besprechen, ohne den bisherigen Umweg der ständigen gegenseitigen und vor allem aufreibenden Täuschung. »Wir haben nichts zu essen mitgenommen. Ein wenig Zwieback für die Rast hatten wir eingepackt, doch der ist längst verbraucht.«

»Du könntest uns was schießen. Bartholomäus und ich werden Reisig sammeln und die Nacht im Freien vorbereiten.«

Carl wurde warm, und diese Wärme erlöste seine Glieder aus ihrer Starre. Sie war gut, sie war wirklich gut. Wenn sein Hirn versagte, dann gab es immer noch das von Mary. Sobald sein Verstand aussetzte, wusste sie, dass es an der Zeit war, die Verantwortung zu übernehmen, ohne viele Worte darüber zu verlieren. Erleichtert langte Carl nach dem Seitengewehr und stapfte davon. Er würde sich um Nahrung kümmern, das war er den beiden Männern und auch Mary schuldig.