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Während sie Steine auflasen und Randys Leiche darunter verschwand, ging die Sonne auf. Der Schnee schmolz, doch der Boden blieb knochenhart.

Irgendwann zeigte Bartholomäus in Richtung eines Berghanges. »Dort vorn ist die Buchenlichtung, dort sind wir heruntergekommen.«

Er schwieg, und erneut wusste Mary, dass sie zu dritt einen Gedanken teilten: Sie waren nicht weit vom Schiff entfernt gewesen. Sie waren im Kreis gelaufen.

Carl legte einen weiteren Stein auf das Grab. Sein Kehlkopf sprang, als er schluckte.

Atlantik, 13. Dezember 1785

Wie ein Korken, dachte Seth. Das Schiff schlingert wie ein Korken durchs Wasser. Er rieb seine Hände aneinander. Es war über Nacht derart kalt geworden, dass er die Finger kaum noch spürte. Der Wind jagte eisig ums Schiff und wollte nicht abflauen. Immer wieder schob er Wellen in die Höhe, die auf die Planken krachten. Immer wieder suchte das Wasser sich seinen Weg. Rinnsale schossen durchs Mannschaftsdeck bis ins Lager hinab. Inzwischen war alles klamm. Die Hängematten, das Holz der Seekisten, die Kleidung.

Auch auf dem Deck der Gentlemen hatte eine schwere Böe, die am Abend zuvor das Schiff erfasst hatte, für erheblichen Schaden gesorgt. Gläser, Flaschen und Geschirr, alles war durch die Messe und die Kajüten geschossen und zerbrochen. Das Krängen des Schiffes verteilte die Scherben noch in die letzten Ecken. Seth störte der abendliche Putzeinsatz nicht, war doch die Reinigung der Kajüten der Gentlemen eine gute Gelegenheit, sich zu vergewissern, ob sich der Affe vielleicht hierhin verkrochen hatte.

Bis tief in die Nacht wischte und fegte er, ohne jedoch eine Spur des Tieres zu entdecken. Feinste Splitter hatte er sich trotz aller Vorsicht zugezogen, das war das karge Ergebnis seiner Suche gewesen.

Seth schob sich die Mütze, die mit zur ausgegebenen Kleidung gehörte, über die Ohren. Sie war aus Segeltuch und mit Flanell ausgeschlagen und groß genug, dass er seinen ganzen Kopf darin verschwinden lassen konnte. Nach dem Porridge in der Früh hatte es einen Becher Brandy extra gegeben, und immer noch glaubte er, das Brennen im Hals zu spüren, ebenso die Wärme, die sich in seinem Bauch ausgebreitet hatte.

Nat stand neben ihm und starrte auf das Meer hinaus.

Seth schob seinen Kopf in die Mütze hinein, hob die Hände und knurrte. Durch den Stoff konnte er seinen Bruder nicht sehen, aber er hörte ihn.

Sein Lachen.

Das erste Lachen, seitdem der Affe verschwunden war. Erwartungsvoll riss sich Seth die Mütze vom Gesicht.

»Du bist so blöde«, sagte Nat, seine Mundwinkel zuckten noch leicht.

Früher hatte Nat jeden Unfug mit einem anderen beantwortet. Früher hatte er oft gelacht, lange und laut. Und dabei waren seine Augen hell wie Kerzenschein gewesen. In letzter Zeit waren sie, egal, ob er gerade aufwachte, aß oder arbeitete, stumpf wie Segelmacher-Johns Haar. Und dieses Abstumpfen hatte bereits begonnen, bevor der Affe verschwunden war. Vielleicht ist das mit der Mütze auch albern, überlegte Seth. Er schaute verzweifelt gen Himmel. Lieber Gott, hilf mir. Was soll ich denn nur machen?

Eine weitere Wolkenfront zog auf, aus der eine der Wolken herausragte. »Schau, Nat«, rief er und packte seinen Bruder am Arm. »Die Wolke sieht aus wie ein Pilz.«

»Ja, du hast recht.«

Sofort zeigte Seth auf die Wolke daneben. »Und die sieht aus wie ein Weiberarsch.« Manchmal lachte Nat über Witze, die schmutzig waren, über Witze, in denen es um Frauen ging. Er beobachtete seinen Bruder aus den Augenwinkeln.

Nat sah kurz in den Himmel und nickte.

Es geht doch, dachte Seth. Hör nicht auf, mach weiter! Was jetzt? Gott, bitte hilf mir noch einmal. »Und da, das sind zwei echt dicke Dinger, richtig dicke Titten. Siehst du die –«

Nat fuhr herum, seine erste Bewegung seit Langem, die Kraft und Schnelligkeit hatte. »Geh weg«, brüllte er. »Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?«

An diesem Abend schwoll der Wind zu einem Tosen an. Er raste um das Schiff, dass die Segel beschlagen und die Luken verschalkt werden mussten. Nur ein Großsegel ließ Kapitän Taylor setzen, und im gesamten Schiff konnte man das Ächzen des Mastes hören, sobald der Wind sich im Stoff verbiss. Wer Freiwache hatte, verkroch sich in der anheimelnden Wärme des Mannschaftsdecks. Doch gesellige Stimmung wollte nicht aufkommen, die Männer hielten sich an ihrem Grog fest und blieben schweigsam.

Immer häufiger brach die See über Deck. Seth lauschte. Ohne Mühe konnte er das Gurgeln der Wellen ausmachen, die sich über die Planken schoben. Er rollte sich in seiner Hängematte ein und zog die Mütze über sein Gesicht. Wieder donnerte ein Brecher an das Schiff. Die Hängematte schlug hin und her, dass Seth sich auf den Rücken drehte und mit beiden Händen am Stoff festklammerte. Er war dankbar für den Lärm des Sturmes, übertönte er doch sein Heulen.

Atlantik, 15. Dezember 1785

»Das Schiff hat sich in den Gelenken gelockert. Es liegt jetzt gut in den Wellen«, sagte Bartholomäus und zog der Robbe das Fell ab.

»Das liegt nicht daran, dass sich das Schiff in den Gelenken gelockert hat. Das liegt daran, dass diese Bark in der Cat-Bauweise entstanden ist. Sie ist im Grunde ihres Herzens ein Kohlenschiff. Eine stabile Lady, die viel ertragen kann und deshalb gut in den Wellen liegt. Und jetzt erspare uns dein Halbwissen.« Sohnrey packte das Fell und reichte es Dan weiter. Linkisch hielt der Junge es in die Höhe.

Henry schüttelte den Kopf und schnappte sich den Robbenleib. »Eure Sorgen möchte ich haben«, knurrte der Smutje und verschwand.

Mary beugte sich vor und tastete den Hals des Zimmermanns ab. Die Schwellungen waren zurückgegangen, das Fieber gesunken. Für einen Moment sah sie über den Rand der Hängematte hinweg, sah Edison, der hinter den arbeitenden Männern stand und die Arme verschränkt hielt.

»Warum nimmt der Smutje das Vieh mit? Das Fleisch schmeckt ranzig.« Er ließ seine Fingergelenke knacken, derweil er Henry hinterherblickte.

»Es war zu wenig Fisch im Netz. Den fressen die Robben, also müssen wir die Robben fressen. So einfach ist das.« Sohnrey wischte die blutverschmierten Hände an seiner Hose ab.

Mary schloss Doc Havenports Koffer und wandte sich an Toni. »Es ist eine herkömmliche Halsentzündung, die abklingt, und dein Fieber ist bereits gesunken. Morgen kannst du sicherlich wieder arbeiten«, sagte sie.

Der Zimmermann nickte, zog sein Halstuch zurecht und lehnte sich zurück.

Edison gab keine Ruhe. »Und dieses Öl, es blakt und stinkt«, pöbelte er weiter.

»Aber es gibt Licht, und jetzt halt dein Maul«, entgegnete Bartholomäus mit angespanntem Gesicht und vorgeschobenem Kiefer.

Der Umgang der Männer war nie rücksichtsvoll gewesen, doch in den letzten Tagen war der Tonfall noch eine Nuance aggressiver geworden. Die Kälte zermürbte die Mannschaft, und das kärglicher werdende Essen schwächte sie. Der verhangene Himmel machte sie müde, und vor ihnen lag die Le-Maire-Straße. Ein Nadelöhr zwischen Feuerland und Staten Island.

Mary stieg den Niedergang hinauf. Eisiger Wind schlug ihr ins Gesicht, als sie das Deck betrat. Nahezu magisch zog es sie in den letzten Tagen an die Reling. Die Beine in die Breite gestemmt, hielt sie das Gesicht in den Wind und starrte aufs dunkelgraue Wasser. Und wieder war es der eine Gedanke, der, seitdem sie die erste der Feuerland-Inseln betreten hatten, beständig in ihr aufkam: Vater, hier irgendwo zwischen Feuerland und Kap Hoorn, irgendwo in diesen ungestümen Gewässern ist dein Grab. Irgendwo in diesen Wellen bist du ertrunken.

Ein gellender Schrei aus dem Krähennest ließ sie zusammenzucken, ließ sie den Blick heben, doch das Dunkelgrau blieb auf Augenhöhe. Eine Welle erhob sich vor dem Schiff, so gewaltig, dass sie ihren Blick daran hinaufklettern lassen musste, bis der Kopf im Nacken lag, um die schäumende Krone zu erblicken.