Выбрать главу

Steinern sah die Welle aus, wie sie einen Moment aufrechtstand.

Zu kurz war die Zeit, einen Gedanken zu fassen, um Angst zu verspüren oder um wegzulaufen.

Für den Bruchteil einer Sekunde verharrte die Welle, fiel dann zusammen und krachte mit dem ihr eigenen Gewicht auf das Schiff. Die Wucht riss Marys Füße von den Planken, doch sie spürte nicht das Wasser, das sie einhüllte, nur ihre Hände spürte sie. Sie gaben den Koffer frei und umklammerten die Reling. Sollte sie loslassen, würde die Welle sie fortreißen und auf der anderen Seite des Schiffes von Deck spülen. Es gab einen dumpfen Schlag, und ihre Füße spürten wieder Halt. Nass hing sie an der Reling, der kalte Wind traf sie. Salz brannte in ihren Augen.

Schreie lärmten durcheinander, und irgendwer läutete die glocke im Sturm, um die Mannschaft an Deck zu rufen. Die Segel mussten eingeholt werden, bevor einer der Masten brach.

Aus dem Wasser bleckten Felsvorsprünge, die zum Greifen nah kamen. Die Wellen drückten und schoben die Sailing Queen, brandeten auf die Felsen, sprangen zurück, rollten wieder über das Schiff hinweg und wurden zu Sturzbächen, die über die Planken jagten. Mary presste sich gegen die Reling und sah die Matrosen. Die sich gegen den Wind stemmten und über die Wanten in die Takelage aufenterten. Mit welchem Mut diese Männer den Naturgewalten trotzen, dachte sie und war versucht, ein Kreuz über Stirn und Brust zu schlagen.

Ihr Blick fiel auf das Bugspriet. Zwei Hände krallten sich an der Spiere fest. Sie schrie auf, doch der Wind schlug ihr ins Gesicht, dass sie husten musste. Mit dem Finger zeigte sie zum Bugspriet, das sich erneut neigte und im Wasser versank. »Mann über Bord!« Marys Stimme überschlug sich. Noch einmal sog sie die Lungen voll Atem und rief: »Vorn am Bug. Mann über Bord.«

»Der Junge«, brüllte Sohnrey. Nats schmaler Körper baumelte in der Luft. Mit einem Arm umklammerte er das nasse Holz, die andere Hand hielt er in die Tiefe. Abermals sank das Schiff, und die Beine des Jungen wurden mit Wasser umspült.

Eine Männerhand tauchte aus dem Wasser auf und packte die Hand des Jungen. Kurz erschien Kyle Bennetters Kopf, er schnappte nach Luft.

»Nat hat ihn.« Sohnrey stürzte zum Bug vor. Das Schiff senkte sich erneut, und der Körper des Jungen verschwand in einer Woge. Die Hand des Vaters glitt aus der des Sohnes, der noch nach dem Arm des Vaters langte. Dann kam die nächste Welle, die über das Schiff hinwegrollte. Es war Sohnreys Rücken, der Mary kurz die Sicht auf Nat und den Arm, den er gepackt hielt, nahm. Das Wasser erfasste die beiden und schluckte die Schreie des Jungen.

Für einen Augenblick war kein menschlicher Laut an Bord mehr zu hören.

Das Grollen des Windes, das Knarzen des Holzes, das Schlagen der Segel und das Krachen des Wassers betäubten das Gehör.

Als die Welle über den Bug hinweggerollt war, ragte die leere Spiere in die Luft, von der das Wasser troff. Mary ließ die Reling los. Wankte und schlitterte über Deck, wurde von Männern angerempelt, die schneller waren. Erst als sie näherkam, sah sie das Knäuel aus Armen und Beinen auf den Planken. Sohnrey hielt den Jungen an sich gepresst.

»Vater«, schrie Nat. »Vater!«

Die Wellen schlugen weiterhin unablässig auf das Schiff ein. Schulter an Schulter standen die Männer und hielten Ausschau, doch Kyle Bennetter war nicht mehr auszumachen.

Mary spürte etwas unter ihrem rechten Fuß. Sie war auf Seths Hand getreten, der vor ihr auf dem Boden kauerte. Er reagierte nicht, sein Blick hing an seinem Bruder fest. Sein Unterkiefer zitterte, und Mary meinte, über das Wüten des Windes hinweg seine Zähne aufeinanderschlagen zu hören.

»Klar zum Wenden!«

Kapitän Taylors Befehl, das Schiff beizudrehen, löste Marys Betäubung. Wir haben einen Mann verloren, den Vater zweier Kinder. Steh nicht herum, schalt sie sich. Wir haben die Meeresenge nicht passiert. Wir müssen uns der See beugen und ruhigere Gewässer erreichen, wir müssen in einer Bucht Schutz suchen. Wir müssen die Schäden am Schiff in Augenschein nehmen. Carl, wo bist du? Wir müssen die Verletzten versorgen. Sie beugte sich zu Seth hinab. Er musste aus den nassen Kleidern heraus, seine Lippen waren bereits blau angelaufen.

»Komm mit mir«, sagte sie leise.

Der Junge schüttelte den Kopf.

»Peter Sohnrey wird deinen Bruder gleich in Doc Havenports Kajüte bringen. Kommst du mit mir, damit er dort nicht alleine ist?«

Sofort stand Seth auf und wankte dem Niedergang entgegen.

Den Zustand der Patienten beurteilen, eine Reihenfolge der Behandlungen festlegen, Brüche ertasten und fixieren, Blutungen stillen und Platzwunden reinigen. Du schaffst das, ermutigte sich Mary und schaute sich verzweifelt um. Es war stickig in der Kajüte, und zu viele Männer warteten darauf, dass ihnen geholfen wurde. Die Erschöpfung machte Marys Glieder schwer und ließ die Augen brennen. Sie griff in Doc Havenports Instrumentenkoffer, der sich unter der Jolle verkeilt hatte und nicht über Bord gespült worden war. Sie nahm die nasse Schere und zog die Schneiden über ihre Jacke, doch der feuchte Wollstoff verwischte die Tropfen zu feinen Schlieren. Ihr fehlte Hilfe.

Einige der Verletzten saßen stöhnend am Boden, Medikamente und Instrumente fielen durch das Rütteln des Sturms immer wieder vom Tisch.

In der Koje des Schiffsarztes lagen die beiden Kinder. Von Carl narkotisiert, waren sie zur Ruhe gekommen. Besonders Nats Zustand war bedenklich. Im Wechsel hatte er sich mehrfach erbrochen oder wimmernd zusammengerollt. Sein Körper hatte dabei unentwegt gezittert. Seth hatte regungslos danebengesessen und nur den Mund geöffnet, als sie ihm von der Opiumtinktur verabreicht hatten.

Carl riss die Tür auf. »Komm zur Messe, so schnell wie möglich. Wir werden jede Hand benötigen.« Er öffnete einen der Schränke und zerrte einen Holzkoffer hervor.

Keine neuen Katastrophen, schrie es in Mary. Schnell warf sie die Instrumente in Doc Havenports Koffer und versprach den wartenden Patienten, bald zurück zu sein.

Sie betrat die Messe, als Carl die beiden Haken aus den Ösen schob und den Koffer aufklappte. Auf einem sandfarbenen Bezug, der mit braunem Muster durchzogen war, ruhten eine Schere, zwei Spatel, drei riesige Messer mit Holzgriffen und zwei Sägen, allesamt mit rotbraun glänzenden Griffen.

Auf dem Esstisch der Offiziersmesse lag Bartholomäus. Er war nicht bei Bewusstsein. Auf seiner Stirn klaffte eine blutende Wunde.

Carl band das Schraubentourniquet um Bartholomäus’ Oberarm. Unterhalb des Ellenbogens war kaum noch eine Hand, ein Gelenk oder ein Unterarm auszumachen. Schieres Fleisch, aus dem weiß die Knochen stakten. Das Blut tropfte nicht, es lief in fingerdickem Fluss gen Boden.

Er ist Toppsgast, ganz oben in den Segeln ist er zu Hause. Wie ein Tänzer springt er dort umher, ich habe es gesehen, wir können ihn nicht zum Krüppel machen. Mary schwieg, trat an den Tisch und rang nach Atem.

Peacock streute Sand in die dunkelrot schimmernde Lache unter dem Tisch, bis sich Sand und Blut verklumpten.

»Was ist mit ihm geschehen?«, fragte sie, griff Bartholomäus’ Kinn und öffnete seinen Mund. Quer über die Mundwinkel legte sie einen Beißstab und versicherte sich, dass die Zunge nicht abgequetscht wurde.

»Eine Kanone hat sich gelöst«, sagte Peacock und schluckte, erst dann sprach er weiter. »Sie ist wie ein Geschoss übers Deck gerast. Bartholomäus gehörte zu denen, die sie aufhalten wollten, bevor sie größeren Schaden anrichten konnte. Sie hat ihn erwischt. Er wurde zur Seite geschleudert, als wäre er …« Einen Moment suchte er nach dem passenden Wort, dann zuckte er hilflos mit den Schultern.