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Bartholomäus’ Lider flackerten. Er stöhnte, warf den Kopf zur Seite und drückte mit der Zunge den Beißstab aus dem Mund. Langsam öffnete er die Augen. Dunkelblaue Augen, von Wimpern schwarz umrandet. Er blickte sich um. Sofort begriff er, dass er in der Offiziersmesse lag, sah die ernsten Mienen der Männer, die den Tisch umstanden.

Carl drehte den Holzkoffer von ihm weg, dass er die Instrumente nicht sehen konnte.

Bartholomäus versuchte sich aufzurichten, doch der zerschmetterte Arm gab nach. Seine Augen weiteten sich, als er das Schraubentourniquet entdeckte, das über dem schieren Fleisch, dem Rest seines Unterarmes und der Hand, angelegt worden war. Brüllend fuhr er in die Höhe und schob sich vom Tisch, wobei sich eines seiner Beine in einem der festgeschraubten Stühle verfing.

Peacock sprang beiseite. Sein schmaler Leib bebte. »Bartholomäus, bitte beruhige dich«, rief der Astronom mit flehender Stimme.

Doch Bartholomäus, gut einen Kopf größer, stieß ihn mit dem linken Arm zu Boden. Als der Matrose mit beiden Füßen auf dem Boden stand, schwankte er. Sein Blick irrte durch den Raum. Kaum, dass er die Tür entdeckte, machte er einige wacklige Schritte darauf zu. Sein Brüllen ebbte nicht ab, und Mary glaubte, ihr Kopf müsse zerspringen. Tränen rannen ihr über das Gesicht.

Carl stellte sich dem Toppsgast in den Weg und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Wir müssen dir helfen«, sagte er, »du wirst die Nacht sonst nicht überleben.«

Bartholomäus’ Kopf schoss vor und schlug in Carls Gesicht. Während Carl auf die Knie sank, die Finger auf Nase und Mund gepresst, durch die das Blut sickerte, hob Toni den Arm und holte aus. Seine Faust landete auf Bartholomäus’ Kinn, und das Brüllen erstarb. Wie ein gefällter Baum kippte er nach hinten und landete auf den Planken.

Gelähmt und still umstanden alle den Toppsgast.

Mary wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, ergriff einen der baumwollenen Lappen und drückte ihn in die Schüssel mit dem warmen Wasser. Sie ging um den Tisch und kniete sich vor Carl.

»Danke«, stieß er hervor und drückte sich das Tuch unter die Nase. »Wie geht’s ihm?« Seine Frage klang dumpf durch den Stoff.

Peacock und Toni hoben Bartholomäus auf den Tisch.

»Ich kümmere mich um ihn. Wie steht es um dich? Kannst du operieren?«

Carl nahm das Tuch beiseite, und Mary legte ihre Hand unter sein Kinn, schob es leicht in die Höhe. Nase und Oberlippe waren geschwollen.

»Mach den Mund auf.«

Langsam schürzte Carl die Lippen, bewegte dann den Unterkiefer. Seine Zähne waren unversehrt.

»Nase und Lippen sehen übel aus, aber Kiefer und Zähne scheinen in Ordnung zu sein.«

»Lass mir einen Moment, dann wird es gehen.«

Peacock reichte einen neuen, sauberen Lappen.

Dankbar sah Mary den Astronomen an. Er weiß, worauf es ankommt, dachte sie. Er hat ein Gespür dafür, in kritischen Situationen das Richtige zu tun. Sie schob sich zwischen zwei Stühlen an den Tisch heran und prüfte, ob Bartholomäus bei dem Sturz Kopfverletzungen davongetragen hatte. Abschließend zog sie das Tourniquet nach und schob erneut den Beißstab in seinen Mund.

Carl erhob sich und griff in den hölzernen Koffer. Sofort war Toni neben ihm und schob ihn beiseite.

»Was soll das?«, fuhr Carl ihn an.

»Ich mache das.«

»Mir geht es gut, ich kann den Eingriff durchführen.«

Toni legte die Hand auf das Sägeblatt. »Das bezweifle ich nicht. Es ehrt Euch, dass Ihr das machen wollt. Aber die Säge ist mein Werkzeug.«

Zwischen den beiden Männern stand glänzend das Sägeblatt mit den auf Hochglanz polierten Zähnen.

»Habt Ihr schon amputiert?«, fragte Toni. Er ließ Carl nicht aus den Augen, der auf den Toppsgast schaute und dann den Kopf schüttelte.

»Es ist nicht das erste Körperteil, das ich absäge. Und es soll schnell gehen«, sagte Toni. Seine Stimme blieb ruhig.

Carl wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht und reichte die Säge weiter. Dann packten die Umstehenden Bartholomäus. Obwohl er nicht bei Bewusstsein war, banden sie seine Beine und den verbliebenen Arm mit Tauen an den Tischbeinen fest. Für den Fall, dass er zu Bewusstsein kommen sollte, stellten sie die Opiumtinktur bereit, und Mary hörte, dass Peacock leise ein Stoßgebet gen Himmel sandte.

Sie konnten beginnen.

Toni setzte das Sägeblatt an. Knackend arbeitete sich das Metall durch Fleisch, Knochen und Sehnen. Das Blut rann über die Säge, an Tonis Händen herab, auf den Tisch und von dort auf den Boden, wo es sich mit dem Sand vermengte.

Mary wurde übel. Und während Carls Finger im Fleisch nach den Gefäßen wühlten und sie abbanden, wischte sie mit nassen Tüchern das Blut in der Wunde beiseite. Sie tat es Peacock gleich und atmete durch den Mund ein und aus.

Vater, dachte sie und unterdrückte die wieder aufsteigenden Tränen. Du hast mir nie erzählt, wie schlimm es auf solch einer Reise wirklich ist.

***

Zuerst war da das Dröhnen.

In seinem Kopf.

Dann hörte Seth das Stöhnen.

Es war sein Stöhnen.

Langsam öffnete er die Augen. Eine Kajüte. Ein Tisch. Kleine Regale an den Wänden. Eine Koje. Er lag in Doc Havenports Koje. Wie gemütlich das war. Kein Rundrücken, wie man ihn nach einer Nacht in der Hängematte hatte. Seth streckte die Beine. Sein Oberschenkel berührte etwas. Er drehte den Kopf. Nat lag neben ihm, zusammengerollt schlief er.

Nat.

Und plötzlich war da ein schmerzhafter Druck in seinem Bauch.

Vater!

Er fuhr auf.

Der Druck stieg vom Bauch aufwärts und nahm ihm die Luft.

Dann kam das Zittern.

Überall. Die Beine, die Arme, die Hände, selbst die Lippen, alles an ihm zitterte.

Die Hand am Bugspriet. Die Welle, die Nat und Vater wegspülte.

Seth keuchte. Der Rotz verstopfte seine Nase. Er wischte mit der Hand durch sein Gesicht.

Und er sah, dass Nat die Augen öffnete, sah, dass sein Bruder ihn anschaute. Kein Blinzeln. Kein Zucken der Mundwinkel. Nicht eine Bewegung war in seinem Gesicht zu erkennen.

Plötzlich schoss Nat in die Höhe, stieß Seth beiseite, beugte sich über den Rand der Koje und kotzte. Deutlich vernahm er das kehlige Geräusch, das Klatschen auf den Planken, den beißenden Geruch. Seth schloss die Augen und atmete schneller und schneller.

Er spürte, dass Nat zusammensank. Einen Wimpernschlag lang war nur ihr Atem zu hören. Versetzter Atem. Erst Nat, dann Seth. Nat und wieder Seth.

Der Schrei zerriss die Stille. Ein greller Schrei, so grell, dass er wehtat. Seth drehte sich um und umarmte seinen Bruder, dessen Leib sich krümmte und krampfte. Erst jetzt spürte er, dass auch sein eigener Leib vom Heulen geschüttelt wurde. »Hör auf, hör auf«, brüllte er.

Doch Nat schwieg nicht, stattdessen schraubte seine Stimme sich höher und höher.

»Vater«, glaubte Seth zu verstehen. Er presste seinen Kopf gegen den krampfenden Rücken seines Bruders und schluchzte.

»Du hast doch noch mich«, rief er. »Du hast doch noch mich.«

Kap Hoorn, 9. Januar 1786

»Warst du bei den Jungen?«, fragte Mary und legte die Schere beiseite.

Carl nickte. Er beugte sich über Bartholomäus und legte die Hand auf dessen Stirn. »Das Fieber ist gesunken.«

»Ja, endlich. Vielleicht wird er wieder auf die Beine kommen. Wie geht es den Jungen?«

»Unverändert. Seth isst regelmäßig und antwortet immerhin, wenn man ihn anspricht. Aber Nat musste ich wieder füttern.«

Nats leerer Blick tauchte vor Marys innerem Auge auf. Der Mund, der Löffel, das Schlucken. Ihre Fragen. Sein Schweigen.