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»Das ist ein Einwand, den ich berücksichtigen werde«, sagte Carl. »Seesoldat, unterlasst die Schießerei.«

Lukas zögerte. Dicht vor ihm zog ein Albatros seine Kreise.

Für einen Augenblick wurde es still an Bord. Alle Augen richteten sich auf Carl, der neben Segelmacher-Johns Bank stand.

»Darf ich?«, fragte Carl und griff sich Lukas’ Muskete. »Gut«, er wandte sich Segelmacher-John zu, »ich halte das für Aberglauben. Aber Ihr wisst Dinge, von denen ich nichts verstehe. Vielleicht versteht Ihr auch von Albatrossen mehr. Und da es hier mehr als genug andere Vogelarten gibt, werde ich der Mannschaft jetzt ein Abendessen schießen, das ohne einen Albatros auskommt.«

Segelmacher-Johns Ohren wurden rot, konzentriert zog er an einem Faden, der sich im Stoff verknotet hatte.

Carl winkte Mary zu sich. Gemeinsam mit Lukas kletterten sie in das Beiboot.

Bevor Lukas auch nur ein Ruder gezogen hatte, legte Carl, die Schwankungen des kleinen Beibootes ausbalancierend, die Muskete an. Er zielte, spürte den Rückstoß und sah den ersten Vogel aufs Wasser fallen. Beifall brandete an Bord auf. Sofort lud er nach.

Mit kräftigen Schlägen ruderte Lukas los, und kurz darauf beugte Mary sich vor, um ein wildes Perlhuhn aus dem Wasser zu ziehen.

Erneut setzte Carl an. Der zweite Treffer. Aufladen. Weißes Fleisch, knusprig gebraten, mild gewürzt. Sein Magen knurrte. Erneut donnerte ein Schuss. Wieder klatschte ein Vogel auf die Wasseroberfläche. Carl hörte die Mannschaft jubeln. Er schaute zum Schiff hinüber. Aufgereiht standen die Männer nebeneinander. Bartholomäus war an Deck, blass und ernst. Das Weiß der Bandage des abgebundenen Stumpfes leuchtete im Licht. Selbst Seth konnte er erkennen. Das helle Haar, der schmale Kopf, der gerade einmal auf Brusthöhe der Männer reichte, sprang ins Auge. Doch den zweiten blonden Schopf konnte er nicht entdecken. Nat, vielleicht tröstet dich wenigstens der Gedanke, dass die Albatrosse weiterleben und die Seele deines Vaters holen können, dachte er, hob an und schoss.

Pazifischer Ozean, 1. März 1786

Erschrocken fuhr Seth auf. Sein Herz schlug laut in die Stille hinein. Er schaute sich um, doch die Männer um ihn herum schliefen. Bartholomäus, der neben ihm lag, hatte den Mund geöffnet und atmete flatternd ein und aus. Seth ließ sich in die Hängematte zurücksinken. Sein Herzschlag wurde regelmäßiger, doch die Müdigkeit war verflogen. Leise setzte er die Füße auf den Boden und schob sich an Bartholomäus vorbei, darauf bedacht, nicht den Verband zu berühren. Es war stickig unter Deck und stank nach Furzen und faulem Atem. Er brauchte Luft. Die Stufen des Niederganges knarrten. Bei jedem Schritt verharrte Seth und lauschte, ob er irgendjemanden mit seinem nächtlichen Ausflug weckte.

Als er die Luke des Niederdecks öffnete, spürte er den Wind. Kühl und salzig strich er über sein schweißnasses Gesicht. Er kletterte auf Deck und blieb breitbeinig in der Dunkelheit stehen. Die Nachtwache war nicht zu sehen. Das Schiff schob sich durch seichte Wellen, und am Himmel waren nur vereinzelte Wolken im Mondlicht zu erkennen.

Seth atmete tief durch. Die Luft beruhigte ihn. Für einen Moment glaubte er, einen beißenden Geruch auszumachen. Nochmals sog er die Luft ein. Keiner der Männer würde es wagen, auf Deck zu scheißen, nicht einmal in tiefster Nacht. Unter Deck, das war etwas anderes. Dort gab es dunkle Ecken, aber hier? Er musste sich geirrt haben. Er hörte ein leises Geräusch, direkt neben sich. Irgendetwas stimmte hier nicht. Wieder vernahm er das Geräusch, es war ein leises Klopfen. Ein Stück von ihm entfernt, auf den Planken. Seth trat einen Schritt vor. Was war das? Eine kleine, kreisrunde Lache glänzte auf dem Holz. Und jetzt sah er es. Es war kein Klopfen, vereinzelte Tropfen fielen vom Himmel. Direkt in die Lache. Sein Herz begann wieder schneller zu schlagen, schneller als zuvor.

Was tropfte da?

Langsam hob er den Kopf.

Zuerst sah er die Füße, direkt über sich.

Nackte, weiße Füße.

Sein Blick fuhr an den Knöcheln entlang, die Hosenbeine hinauf. Eine helle Leinenhose. Selbst im Mondlicht konnte Seth erkennen, dass sich eine dunkle, feuchte Spur vom Schritt ausgehend den Stoff hinabzog. Ungläubig schaute er auf die Hände und die Arme, die schlaff neben dem Körper herabhingen. Der Wind bauschte kurz das Hemd auf. Seth hatte gehofft, dass Nat schneller wachsen und ihm das Hemd bald zu klein werden würde. Er hatte sich auf den Tag gefreut, an dem er es vererbt bekommen würde. Sein erstes Hemd mit roten Ringeln, und das vielleicht noch nach Nat gerochen hätte. Sein Blick wanderte weiter in die Höhe. Der Kopf des Bruders hing nach vorn geneigt. Das Kinn berührte fast den Brustkorb. Die Augen waren geschlossen. Der Mund stand offen. Um den Hals lag ein Tau, das sich tief in seine Haut eingeschnitten hatte. Das obere Ende war an der Fockrah verknotet. Eine Welle ließ das Schiff schlingern, und Nats Körper pendelte, den Bewegungen des Mastes folgend, hin und her. Seth stand starr und schaute, und sein Bruder baumelte im Wind.

Nein!

Nein!

Neiiiiiiin!

Mit einem Mal hörte Seth Schritte. Schnelle Schritte, die auf ihn zukamen. Ein gehetzter Atem, eine Hand legte sich auf seine Schulter und schob ihn zur Seite.

»Nein, verdammte Scheiße, nein!« Lukas schrie, dass seine Stimme brach. So laut, wie das Nein in Seth hämmerte. Doch Nat blieb stumm. Und kalt. Vielleicht war er auch schon tot.

Er sah, dass Lukas die Arme hob und um Nats Beine schlang. Dass er versuchte, den Bruder in die Höhe zu heben.

»Nat, nein, nein!« Lukas hörte nicht auf zu schreien, und Tränen liefen sein Gesicht hinab. Er presste es gegen Nats Beine, wobei seine Wange auf der Pissespur lag.

»Was ist los? Verdammt, was ist da los?« Dan. Er musste im Krähennest sitzen. Seine Stimme klang verschlafen und ängstlich.

»Los, Kleiner, lauf. Hol Hilfe!« Lukas sah zu ihm herüber, und Seth erwiderte kurz seinen Blick. Dann schaute er wieder in Nats Gesicht. Was soll ich denn tun?

»Bitte, Kleiner! Lauf! Hol die Nachtwache, hol den Kapitän. Hol Sohnrey, hol irgendjemanden. Mach was.« Die letzten Worte gingen in einem Schluchzen unter.

Seth wollte Lukas helfen, aber konnte der nicht sehen, dass er keinen Körper mehr hatte? Da waren keine Arme mehr, die zupacken, keine Beine, die laufen, keine Stimme, die rufen konnte. Kein Herz, das mehr schlug. Er hatte nur noch Augen, und die konnten Nat doch nicht allein lassen.

Mein Nat. Mein Möwenbezwinger.

Er blinzelte. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Sie liefen so voll, dass das Bild verschwamm. Lukas, der Nats Beine umklammerte. Der gesenkte Kopf, die baumelnden Arme.

Dann wurde es still. Das Bild flackerte.

Ja, das ist gut. Jetzt sterbe ich auch. Nat, warte auf mich. Ich komme mit dir. Lass uns gemeinsam zu Mutter und Vater gehen.

***

Laternen hüllten die Männer, die beieinanderstanden, in goldgelbes Licht. Schweigend umringten sie den Hauptmast. Auf der Fockrah hockte Lukas, der sich vornüberbeugte. Mary kniff die Augen zusammen und sah ein Messer blinken, das ein Seil durchtrennte, einen blonden Haarschopf, der in hochgereckte Arme sackte und aus ihrem Blickfeld verschwand. Ein gellender Schrei ertönte. Es war Seths Stimme, er musste irgendwo zwischen den Männern stehen, irgendwo in unmittelbarer Nähe des Geschehens. Er schrie so jämmerlich, dass Mary fürchtete, ihr Herz würde in feinste Splitter zerfallen. Dann verstummte der Junge, und die gespenstische Stille, die das Geschehen bereits zuvor umgeben hatte, kehrte zurück.

Mary blieb auf der Treppe stehen, die vom Achterdeck hinabführte, und klammerte sich am Geländer fest.