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Sie hat mir damals die Sammlung gezeigt, durchfuhr es ihn. Käfer, Schmetterlinge, anderes Getier.

Das Offensichtliche.

Gerade recht für den Laien.

Nicht einmal im Ansatz habe ich darüber nachgedacht, womit sich diese Frau ansonsten befasst, was sich noch alles hinter ihrer Stirn verbirgt. Sein Blick blieb an der Schrift hängen. Die lesbaren, steil geschwungenen Bögen mussten aus Marys Feder stammen. Sie waren deutlich von den gedrungenen Lettern des Vaters zu unterscheiden, die hastig hingeworfen und partiell verwischt waren.

Eine Handschrift, von der ich annehme, dass sie die deine ist. Viel mehr ist mir von dir nicht geblieben, dachte Landon und schloss das Buch. Er legte es auf vier weitere Bücher, die detailreiche Abhandlungen zu den unterschiedlichsten Krankheiten enthielten. Müde stützte er den Kopf in seine Hände.

Hol dir das nächste Buch, versuchte er sich zu ermuntern. Du wirst nicht umhinkommen, dich weiter in die Materie zu vertiefen. Mit ein wenig Umherblättern ist es nicht getan.

Der Himmel war bedeckt, kein Stern war auszumachen. Landon überquerte den Hof und war erstaunt, dass die Nacht so kalt geworden war. Der Schnee war verharscht und knackte unter seinen Stiefeln. Warum war er nicht ausgefahren, hatte ein wenig Zerstreuung gesucht? Eine Abendgesellschaft samt ihren oberflächlichen Gesprächen, vielleicht auch ein Tänzchen oder ein Besuch im Theater. Nein, er hatte sich erneut einem der Bücher widmen müssen. Was erhoffte er sich davon? Sie zu beeindrucken, wenn sie jemals zurückkam? Du machst dich zum Narren, schalt er sich, doch was soll’s? Wer wird je erfahren, wie du dir deine Nächte vertreibst?

Er feixte, passierte die Stallungen und lief zum Schuppen hinüber. Ein solider Bau, dessen Dach noch im Herbst frisch abgedichtet worden war. Trotzdem zog es ihm das Herz zusammen, als er das Tor öffnete. Gut zwanzig bis dreißig Holzkisten stapelten sich auf dem sandigen Boden. In ihnen ruhte Francis Linleys Nachlass, lieblos und ohne System in Kisten verpackt, die zu beschriften sich niemand die Mühe gemacht hatte. Die Kisten müssen schnellstmöglich ins Haus, beschloss Landon. Dann werde ich sie durchgehen, gewissenhaft durchgehen.

Wahllos hatte er, nachdem die Lieferung schon Wochen im Schuppen gestanden hatte, eine erste Kiste geöffnet. Bücher hatte sie enthalten. Er hatte eines zur Hand genommen, es aufgeschlagen und dabei Marys Schrift entdeckt. Nach wenigen Zeilen hatte er sich festgelesen. Die Erkrankungen des menschlichen Organismus, genaueste Beschreibungen der Krankheitsbilder und deren Behandlung hatten ihn in den Bann gezogen. Ekel vor ihm bisher unbekannten Krankheiten und Respekt vor der Genauigkeit der Arbeit hatten sich vereint und ihn Seite um Seite weiterblättern lassen.

Er war Kaufmann.

Sein Geschäft war der Handel mit Waren.

Darauf verstand er sich.

Ein überschaubares Geschäft, das von einer immer gleichen Voraussetzung geprägt war: der Nachfrage. Er schauderte, als er dagegenhielt, wie viele Organe in seinem Körper verborgen waren und wie viele Möglichkeiten es gab, an jedem einzelnen zu erkranken. Zu forschen bedeutet anscheinend, täglich mit der Vergänglichkeit des Körpers oder vielmehr des Lebens konfrontiert zu sein, dachte er, schaute an sich herab und strich seine Weste glatt. Dann hob er die Öllampe hoch, beugte sich vor, ergriff eines der Bücher und wischte mit der Hand über den Einband. Nicht nur, dass du dich zum Narren machst, jetzt wirst du auch noch sentimental. Hör auf damit.

Pazifischer Ozean, 9. März 1786

Dass das Leben von alten Menschen abfiel wie vertrocknete Blätter von einem Baum, hatte Mary erlebt. Dass das Leben von einem Kind abfiel, auch das hatte sie erlebt. Doch dass das Leben schneller von Seth abfiel, als der Herbstwind die Blätter von den Bäumen riss, schnürte ihr die Kehle ab. Vor dem Grab des Bruders war er zusammengesackt, gerade noch rechtzeitig hatten Carl und sie ihn an den Armen packen können, sonst wäre er in das Grab gestürzt.

Er will ihm hinterher, war es Mary durch den Kopf geschossen. Doch das lassen wir nicht zu.

Ein Gedanke. Ein Wunsch. Ihr Wunsch. Mehr nicht.

Als sie die Tür zur Kapitänskajüte öffnete, sah sie in Gedanken Seths Rücken vor sich. Ein kleiner, ausgemergelter Körper, ohne Kraft und Lebenswillen. Vielleicht hatte die Natur recht: Was sollte ein Knabe in einer Welt, in der er keine Familie mehr hatte? Gerade zehn Jahre alt war er und hatte sie alle gehen sehen. Mit einem sachten Kopfschütteln schob Mary das Bild beiseite.

Der Kapitän stand an der Fensterfront. Dunkelgrau und zerwühlt lag das Meer vor ihm, der Himmel hing zerfetzt in bauchige Wolken. Er wandte sich nicht um, als Mary eintrat. Sie blickte zu Carl hinüber, der müde aufschaute.

»Verzeiht«, sagte sie, »dass ich störe, aber ich könnte Hilfe gebrauchen.«

»Einige deiner Zeichnungen sind noch nicht fertig«, entgegnete er. »Wir haben viel Zeit verloren. Es hilft nichts, wir müssen die Arbeiten wieder aufnehmen.«

»Nein, müssen wir nicht.« Ihre Stimme hatte eine Schärfe, die man von ihr nicht gewohnt war.

Kapitän Taylor drehte sich um, die Augenbraue erhoben.

Doch Mary fuhr unerbittlich fort: »Wir müssen die Lücke füllen, die die anderen hinterlassen haben, hast du gesagt. Wir müssen unsere Aufgaben annehmen, und dazu gehört Seth. Er ist unser Patient, und unsere Aufgabe ist es, ihn mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln ins Leben zurückzuholen.«

»Er ist ein Kind.«

Mary schaute zu Kapitän Taylor hinüber. Sie begann zu schwitzen. »Was meint Ihr damit?«

»Mr. Middleton, haltet mich nicht für unchristlich, aber er ist ein Kind. Kein vollwertiges Mitglied der Mannschaft.«

Ihr Schweiß stank.

Er stank nach Angst.

Sie ahnte, was Kapitän Taylor sagen würde.

»Unsere Medikamente sind knapp bemessen. Ich kann nicht zulassen, dass sie über Gebühr auf ein Kind verwendet werden. Es wird der Mannschaft zum Schaden gereichen, wenn im Falle weiterer Erkrankungen keine medikamentöse Versorgung mehr möglich ist.«

»Ja, Sir.« Mary nickte. »Ich habe verstanden.« Ohne Carl eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ sie den Raum.

»Henry, du musst mir helfen.«

Der Smutje schnitt Zwiebeln. Seine Augen tränten, und er wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. »Wie kann ich dir helfen?«, fragte er.

»Seth, der Kleine …«

Henry nickte. »Ja, ein Jammer ist das.«

»Ich brauche verschiedene Dinge, mit denen ich ihn behandeln kann.«

»Da kann ich doch nichts für dich tun.«

»Doch, ich bitte dich, hilf mir. Sonst muss Segelmacher-John schon wieder ein Kind einnähen. Ich brauche nicht viel. Rosmarin, Zwiebeln, ein wenig Tee.«

»Doc Havenports Kajüte quillt über. Schränkeweise Salben und Wässerchen. Was soll das? Warum holst du dir da nicht die nötigen Medikamente?«

Mary senkte den Kopf. »Der Kapitän meint, dass ich die Medikamente nicht an ein sterbendes Kind verschwenden soll.«

»Ach, und du meinst, ich würde meine wertvollen Vorräte an ein sterbendes Gör verschwenden?« Henry nickte Dan zu, der an einem Teigberg herumknetete. »Deck das mit einem feuchten Tuch ab und hol Zwieback herauf.«

Der Junge tat, wie ihm geheißen.

Was sollte sie mit Zwieback? Irritiert schaute Mary den Smutje an.