Sie musste hier weg. Doch sie blieb stehen, schwitzte und presste die Hände gegen ihren Körper. Beißend stieg ihr der Geruch der eigenen Angst in die Nase.
Ebenezer Stone erhob sich. »Ihr seht wohl selbst, dass Ihr nicht recht bei Trost seid?«, brüllte er, während sie anfing, rückwärts zur Tür zu gehen. Langsam, Schritt für Schritt. Dann drehte sie sich abrupt um und lief, während sein Gebrüll ihr nachjagte, jedes Wort ein Schlag: »Ein Weibsbild, das an Bord eines Forschungsschiffes will? Eine Unverschämtheit ist das! Geht nach Hause zu Eurem Stickrahmen! Oder ich muss an Eurem Geisteszustand zweifeln! Abführen lass ich Euch, und das schwöre ich bei Gott, wenn Ihr noch einmal hier auftaucht! Ihr vergeudet die wertvolle Zeit des Navy Board. Raus hier!«
Als die Tür hinter ihr zuschlug, lehnte sie sich für einen Augenblick erschöpft gegen das vom Regen nasse Holz.
William kam bereits mit der Kutsche die Straße entlanggefahren. Sofort richtete Mary sich auf und straffte die Schultern, er sollte nicht ahnen, wie erbärmlich ihr Auftritt gewesen war.
»Wie war es? Wie war es?«, rief er schon von Weitem.
Was soll ich ihm antworten? Dass man mich ausgelacht und verhöhnt hat? Dass es keinen Platz auf der Welt für mich gibt? Dass mein Wunsch nach Wissen ein Fluch ist? Dass die Wunderkammer der einzige Ort ist, an dem ich im Verborgenen das sein darf, was ich bin? Sie kletterte neben William auf den Kutschbock.
Regungslos blieb er sitzen und schaute sie an.
»Du hast recht, sie brauchen keine Frauen.«
»Ach, das erleichtert mich sehr«, sagte er. »Das wäre auch viel zu gefährlich für Euch. Frauen an Bord eines Schiffes bringen zudem Unglück. Auf Euch wartet hier eine solide Zukunft.«
»Ja, ich weiß. Ich kann irgendwen heiraten und meinen Söhnen mein Wissen weitergeben.«
»Genau«, erwiderte William. Gutgelaunt trieb er die Pferde mit der Peitsche an.
London, 14. Juli 1785
Carl Belham betrat das Arbeitszimmer und atmete ein. Sein Brustkorb weitete sich, und der Druck unter seinen Rippenbögen ließ nach. Journale, Skizzen und Karten stapelten sich auf dem Schreibtisch, obenauf lag das Town Magazine. Mit ihrer Erwähnung hatte Sir Wellington die heutige Versammlung der Royal Society eröffnet. Seit über hundert Jahren kamen in dieser Gelehrtengesellschaft ehrwürdige Männer zusammen. Männer, deren Ziel es war, die Wissenschaft zu fördern. Und womit hatten sie heute Geist und Zeit verschwendet? Mit einem jüngst erschienenen Artikel zur anstehenden Forschungsfahrt. Ereifert hatten sie sich wie die Waschweiber, allen voran Sir Wellington. Eindrucksvoll hatte er wieder seine Augenbrauen zusammengezogen, dass die Stirnfalte sich zur Furche vertieft hatte.
Carls Blick fiel aus dem Fenster. Die tiefhängenden Wolken tauchten den Tag in ein trübes Dämmerlicht. Er zündete die Kerzen an, griff sich die Zeitung und blätterte, bis er die Schlagzeile fand. »Neuerliche Expedition in den Pazifik« verkündeten die großen Lettern. Flüchtig überflog er die Zeilen, in denen seine Verhaftung vor einigen Jahren mehr Raum einnahm als die geplante Reise. Als emsigen Naturwissenschaftler betitelte man ihn. An den Ufern des Wassergrabens bei Hounslow hatten sie ihn seinerzeit an den Beinen aus der Hecke gezogen. Einer Buchsbaumhecke, las Carl erstaunt. Daran konnte er sich nicht mehr erinnern. An den Vorwurf, kurz zuvor eine Postkutsche überfallen zu haben, erinnerte er sich jedoch genau. Erst als er dem Richter in der Bow Street vorgeführt worden war, hatte er erklären können, dass er im Geäst und Dreck herumgekrochen war, um Insektenlarven einzusammeln.
Er warf die Zeitung auf die Unterlagen, die er am Morgen mit seiner Mutter durchgegangen war. Er hatte sie und seine Schwester zu Beginn der Woche nach Chelsea holen lassen. Eine mühsame Reise, doch unerlässlich. Die Mutter musste während seiner Abwesenheit die Geschäfte weiterführen. Buch um Buch hatten sie die Einnahmen geprüft. Seite um Seite Notizen hinzugefügt. Gemeinsam hatten sie errechnet, dass allein aus den zweihundertsiebzig Pachtfarmen ein Jahreseinkommen von gut fünftausend Pfund zu erwarten war. Zufrieden war er zu der Feststellung gelangt, dass die beiden Frauen in seinem Leben versorgt waren. Er konnte die Reise antreten. Alles war sorgsam vorbereitet, und nun das: ein Schlag ins Gesicht. Aus den eigenen Reihen. Den Emporkömmling Abraham Miller wollte man ihm als Schiffskommandanten vorsetzen. Abraham Miller, diesen schmächtigen Hänfling, der ein-, zweimal auf Schiffen der Ostindischen Kompanie mitgereist war. Der nicht einen Tag seines Lebens in der Navy gedient hatte.
Carl registrierte ein rhythmisches Anklopfen. Die Tür öffnete sich einen Spalt, und Franklin Myers schob sich in das Zimmer. Wortlos kam er auf den Schreibtisch zu.
»Wolltet Ihr nicht künftig warten, bis ich Euch auffordere, einzutreten?«, fragte Carl und schaute auf.
Franklin Myers nahm im schweren Sessel vor dem Schreibtisch Platz, lehnte sich zurück und faltete die Hände. Das feuchte Wetter hatte sein rotblondes Haar stärker gekraust als sonst. Wirr hatte es sich aus dem Zopfband gelöst und stand am Hinterkopf ab. Schon als Carl die Royal Society verlassen hatte, war er sich sicher gewesen, seinen Gehilfen heute nochmals anzutreffen. Berechnen konnten sie einander, als wäre ihr Umgang die einfache Addition alltäglicher Gewohnheiten. Eine Rechenoperation, zielgerichtet und im Ergebnis logisch.
»Da wir nun beieinandersitzen, möchte ich Euch bitten, mir eine Einschätzung der heutigen Versammlung zu geben«, sagte er.
Franklin lächelte. »Abraham Miller ist eine geistreiche Erscheinung. Als Hydrograph bringt er doch jene Qualifikationen mit, eine Entdeckungsfahrt dieser Größenordnung zu befehligen. Er ist in der Lage, das Messer zu führen, um Stifte zu spitzen. Er öffnet seine Tintenfässer selbstständig und –«
Carl fuhr von seinem Stuhl auf und stützte sich auf die Platte seines Schreibtisches. Die Bücher gerieten ins Rutschen, und zwei von ihnen fielen zu Boden. Es war ihm gleichgültig. Er wandte seinen Blick erneut Franklin zu. Nein, zum Scherzen war er nicht aufgelegt. »Sir Wellington ist – und bitte korrigiert mich, sofern ich mich irre – ein Philosoph. Wie kommt ein Philosoph dazu, der Admiralität der Royal Navy diesen Nichtsnutz Miller als Kommandanten einer Forschungsreise vorzuschlagen?« Seine Stimme wurde lauter, er konnte es nicht verhindern. »Seit Wochen wird Zeit mit diesem Unsinn vertändelt. Wie kommen die Gentlemen jetzt darauf, eine Petition an die Admiralität zu formulieren, ohne diese mit mir abzustimmen?«
Franklin strich sich übers Haar, er schien zu spüren, dass es in die Höhe ragte. Mehrfach drückte er die Locken flach. »Ihr habt die Sitzung zu früh verlassen, Sir«, sagte er, während die Strähnen sich wieder aufrichteten. »Sir Wellington führte aus, dass immer noch zu viele Unstimmigkeiten in den Karten zu finden seien. Er sprach sogar von den ›wandernden Inseln des Pazifiks‹ und legte höchsten Wert darauf, Kapitän Cooks Aufzeichnungen weiterführen zu lassen.«
»Abraham Miller soll Cooks Aufzeichnungen weiterführen?« Carl sah die Mannschaft schon im Hafen von Plymouth die Arbeit verweigern. Derbes Pack, das mit verschränkten Armen an Bord stand und den Hänfling beobachtete, der Befehle um sich schleuderte, die nicht einmal die Schiffsjungen befolgten. Kapitän Taylor, das war ihr Mann! Ein Offizier der Navy. Erfahren, fleißig, zuverlässig, mit hervorragenden Navigationsfähigkeiten. Wie sollte irgendwer an Bord, fragte er sich, wissenschaftlich arbeiten, wenn niemand in der Lage war, die Mannschaft im Zaum zu halten?
Franklins Stimme unterbrach ihn in seinem Gedankengang. »Mr. Miller hat noch einmal betont, dass er es ablehnt, als Wissenschaftler an Bord zu gehen. Entweder bekommt er die Leitung des Schiffes anvertraut, oder er reist nicht mit.«
Immer noch stand Carl auf den Schreibtisch gestützt. In den Wandleuchtern waren die ersten Kerzen erloschen und mussten gewechselt werden. Das dunkle Holz der Wände schien das letzte Licht zu schlucken. Er bückte sich, hob die Bücher vom Boden auf und legte sie auf den Tisch zurück.