Bist du dir sicher?
Für mich? Nein, das glaube ich nicht. Das ist für den Sir.
Du hast recht. Marc stellt mir den Teller hin! Wann habe ich das letzte Mal Speck zu essen bekommen?
Ja, ist ja gut. Ich probiere ihn.
Der schmeckt lecker.
Guck nicht so. Ich kann doch nichts dafür, dass du ihn nicht essen kannst.
Er knuspert beim Kauen, hörst du das?
Wenn die beiden doch mal aufhören würden, mich anzuschauen.
Nimm die Finger aus meinem Gesicht, Marc. Ich kann es nicht leiden, wenn man mich anfasst.
Sie flüstern.
Was? Ehrlich?
Hast du das richtig gehört?
Marc hat gesagt, ich könnte den Verstand verloren haben?
Das ist nicht wahr, ich tue einfach so, als hätte ich das nicht mitbekommen.
Ja, etwas zu trinken wäre gut.
Ich soll nicken, meinst du? Gut, dann nicke ich.
Tee? Die haben nur Tee? Wie langweilig.
Naja, ein, zwei Schluck werden nicht schaden.
Oh! Der Tee ist mit Honig gesüßt! So hat das Mutter immer gemacht. Tee mit Honig. Das ist lecker.
Nat, warum sind die so nett zu mir?
Pazifischer Ozean, 14. März 1786
Anfangs hatte er sich immer schlafend gestellt. Den Kopf zur Wand gedreht, hatte er die Augen geschlossen gehalten und sich nicht gerührt. Am zweiten Tag hatte Mary sich verabschiedet, die Tür zufallen lassen und war in der Kajüte stehen geblieben. Kaum hatte der Junge sich allein gewähnt, hatte er sich aufgerichtet. Hatte Mary gesehen und sein Gesicht verzogen, den Rücken gegen die Wand gelehnt und leise mit sich selbst gesprochen.
Das Buch hatte sie auf eine Idee gebracht.
Als sie sich am Tag zuvor auf den Weg gemacht hatte, um sein Essen aus der Kombüse zu holen, hatte sie ein Buch aufgeschlagen auf der Seekiste liegen lassen. Bei ihrer Rückkehr lag es auf dem Schoß des Jungen, der konzentriert darin las. Das erschien ihr als eine Möglichkeit: Er wollte nicht sprechen, aber offensichtlich wollte er lesen. Vielleicht würde er auch schreiben wollen?
Heute war der vierte Tag nach seinem Erwachen. Zeit, ihn aus der Reserve zu locken. Sie öffnete die Seekiste und holte eines der einfachen Skizzenblätter und einen Bleistift heraus.
»Hier«, Mary legte beides auf seine Decke, »möchtest du vielleicht zeichnen oder schreiben?«
Die Hände auf der Decke gefaltet, schaute Seth den Papierbogen an. Eine Reaktion blieb aus. Nicht einmal ein Kopfnicken oder Kopfschütteln kam als Antwort.
»Überlege es dir in Ruhe«, sagte sie und verließ die Kajüte.
Am Abend lag auf der Seekiste ein abgetrennter Streifen des Papierbogens. »Kann ich bitte noch ein anderes Buch haben? Das habe ich ausgelesen. Danke schön.« Mary musste ein Lächeln verbergen, als sie die wackelige Schrift las. Unter dem Kopfkissen, das Seth sich in den Rücken geschoben hatte, lugte eine Ecke des restlichen Papiers hervor.
Paumotu-Archipel, 3. April 1786
Es war ein knittriger Papierfetzen gewesen, den Mary ihm entgegengehalten hatte. Mit ungelenker Handschrift hatte Seth die Frage »Darf ich dir wieder bei deiner Arbeit helfen?« daraufgeschrieben. Vor Rührung hatte Carl kein Wort hervorbringen können.
Mary hatte intuitiv das Schweigen richtig interpretiert und war wortlos verschwunden. Ob es sie wirklich gab, die weibliche Intuition? Vor wenigen Monaten hätte Carl den Gedanken rundheraus abgelehnt, aber diese Frau schien manches Mal seine Gedanken zu erahnen, noch bevor sie in seinem Kopf Form angenommen hatten. Sie hatte dem Jungen in seine Kleider geholfen und ihn nach Wochen das erste Mal wieder in die Offiziersmesse geführt. Aus dem aufgeweckten Kind war ein Schatten geworden, ein stummer Schatten, der ihr von nun an überallhin folgte.
Immer noch wichen einige der Männer dem kleinen Kerl aus, wenn sie seiner ansichtig wurden. Sie verbargen ihre Furcht nicht, der Knabe könne ansteckend sein und sie könnten ebenfalls dem Wahnsinn anheimfallen.
Carl strich dem Jungen kurz über das Haar und folgte seinem Blick. Das Meer hing heute in einem abgewetzten Blau unter einem aschgrauen Himmel. Doch aus dem Krähennest hatte man gemeldet, es seien Vögel gesichtet worden.
»Bald müssten wir Land erreichen. Wenn Vögel auftauchen, ist irgendwo Land in der Nähe«, sagte Carl, ohne eine Antwort zu erwarten. »Wir haben inzwischen den Pazifik erreicht. Man nennt ihn auch Stillen Ozean, weil das Wasser hier friedlicher, das Wetter konstanter und der Wind träger ist.« Wie so oft in letzter Zeit redete er auf Seth ein, sagte irgendwelche Dinge, von denen er nicht wusste, ob sie ihn überhaupt interessierten. Doch das beharrliche Schweigen des Jungen machte ihn mürbe, und so übertönte er es mit seinen Worten.
»Land in Sicht.«
Es war keine Meldung, es war ein Triumphschrei. Carl fühlte, dass sich die Haare auf seinen Armen aufstellten. Wenn der Umriss dieser Insel eine Täuschung ist, eine Wolkenwand, die wie ein Gebirge aussieht, dachte er, oder eine Nebelbank, die für eine Küste gehalten wird, dann werde ich verrückt. Dann kann die Mannschaft erleben, was wirklicher Wahnsinn ist.
Seth zerrte an seinem Hemdsärmel. Die kleine Hand zeigte mit ausgestrecktem Finger aufs Wasser hinaus, auf ein kreisrundes Riff, das eine dicht begrünte Lagune umschloss. Am Strand flatterten die Blätter dreier Kokospalmen im Wind, und augenblicklich lag Carl der Geschmack des süßlichen Fruchtfleisches auf der Zunge.
Still war es an Deck geworden. In der Takelage hingen die Männer, an der Reling drängten sie sich. Offenbar wollte jeder die Schönheit der pazifischen Perle, die sie just passierten, bewundern.
»Da! Ein Weib!«, schrie Edison auf. Ein Raunen strich über Bord, und noch weiter reckten sich die Hälse, um die beste Sicht zu haben.
Der Kerl besteht nur aus Muskeln und vielleicht noch Augen, die er nutzt, um Weiber auszuspähen, fuhr es Carl durch den Kopf, und er begann zu zählen. Vierundzwanzig Männer konnte er ausmachen und eine Frau. Und die hatte Edison natürlich als Erster entdeckt.
Als das Schiff längs der Insel entlangfuhr, liefen die Inselbewohner am Strand mit, ohne jedoch auf die Zurufe der Mannschaft zu reagieren. Sie liefen und trugen ihre Waffen, hölzerne Keulen und Lanzen, eng am Körper. Die Lenden waren mit Schurzen bedeckt, mehr Kleidung trugen die Männer nicht am Leibe. Weitere Frauen tauchten auf, sie hielten sich jedoch im Hintergrund, im Schatten der Palmen, wo auch kleinere Hütten zu erkennen waren.
Inzwischen hatte das Schiff die Insel umrundet. Immer mehr Männer kletterten aus der Takelage und verließen die Reling. Jeder hatte es gesehen: So wunderschön die Perle dort im Sonnenlicht schimmerte, das Schiff konnte nicht anlegen.
»Schade«, sagte Carl, und der Kleine nickte.
Paumotu-Archipel, 14. April 1786
Die Tage wurden zur Qual. Je mehr Riffe und Inseln auftauchten und die Hoffnung beflügelten, man könne endlich vor Anker gehen, umso beengter nahm Carl das Schiff wahr. Das Deck schien zu schrumpfen, und die Wände und Decken der ohnehin beengten Kajüten rückten, da war er sich sicher, unaufhaltsam näher. Unentwegt lungerte er an Deck herum, doch das Bild wiederholte sich: Steinige Riffe ließen es nicht zu, die Inseln anzusteuern, und die, an denen man hätte anlegen können, waren zu karg und zu winzig, um das Schiff zu bevorraten und zu überholen.