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Carl bemerkte, dass die Mannschaft sich in diesen Tagen in zwei Lager spaltete. Die einen waren von der Hoffnung, bald Tahiti zu erreichen, beseelt und verrichteten ihr Tagewerk mit neuer Kraft. Die anderen, denen es so erging wie ihm, wurden von einer lähmenden Müdigkeit befallen. Ihr Gemüt wurde von der beständig aufkeimenden und wieder in sich zusammensinkenden Hoffnung, an Land gehen zu können, geschwächt.

Carl hatte nicht erwartet, dass ihm so kurz vor der Ankunft die Kräfte schwinden würden, und nicht einmal ausreichender Schlaf änderte etwas an seinem Zustand. Am gestrigen Abend hatte er sich frühzeitig zurückgezogen, und als er jetzt einen Blick aus dem Bullauge warf, verriet ihm der Stand der Sonne, dass der Vormittag weit vorangeschritten war. Er blieb liegen, spürte die Schwere in den Gliedern und tastete mit der Zunge seinen Gaumen ab.

»Marc! Das hat aber gedauert«, begrüßte Carl Mary, als sie sich gen Mittag in Begleitung des Jungen in seine Kajüte schob.

»Oh, ich dachte, ich müsste mir Gedanken über deinen Zustand machen, aber wie ich sehe, geht es dir gut.«

»Nein, mir geht es nicht gut. Ich habe beginnenden Skorbut.«

Ihr Lächeln erstarb, und der Blick strafte ihn, damit nicht zu scherzen.

»Sieh selbst nach«, seufzte Carl und öffnete den Mund.

Mary trat näher. »Zunge raus«, forderte sie.

Gehorsam streckte Carl die Zunge heraus.

»Wieder reinnehmen.«

Die Zunge verschwand, und Mary zog die Oberlippe in die Höhe.

»Es ist unfassbar: Der Mann, der der Mannschaft immer predigt, sie müsse Gemüse und vor allem das gute Sauerkraut zu sich nehmen, erkrankt am Skorbut. Eine Meisterleistung.«

Seth kicherte und schaute verlegen zu Boden.

Carl schüttelte den Kopf, doch Mary ließ die Lippe nicht los. Vielmehr winkte sie Seth zu, näherzutreten. Als der Junge neben ihr stand, schob sie die Lippe noch weiter in die Höhe.

»Sieh, das Zahnfleisch zieht sich zurück. Es ist gerötet, und der Gaumen ist wund. Der Patient ist müde und spürt meist jetzt schon erste Schmerzen in den Gliedern.«

Carl nickte.

»Du läufst jetzt zum Smutje und bittest ihn um Brandy. Wir haben noch ein Fässchen Zitronensaft bei uns. Hiervon werden wir ein wenig mit dem Brandy mischen und dem Patienten täglich sechs Unzen verabreichen. Das müsste ihn wiederherstellen.«

Seth nickte und sprang davon.

Mary ließ Carls Lippe wieder los.

»Ich denke, der Junge spricht nicht. Wie soll er beim Smutje dann Zitronensaft bekommen?«, fragte er und rieb sich die Lippe.

»Seth ist hilfsbereit, vielleicht wird eine der Aufgaben, die ich ihm übertrage, seine Zunge wieder lösen. Wer weiß …«

»Manchmal erinnerst du mich an Franklin, er war ähnlich raffiniert.«

»Er war mir ein guter Lehrmeister.« Für einen Moment legte sich Stille über sie.

»Ja, Marc, das glaube ich, dass Franklin dir ein Lehrmeister war, wie es so schnell keinen Zweiten mehr geben wird.« Es war nur ein kurzer Blick, den Mary ihm zuwarf.

»Ich meine das ernst. Ich bin sehr zufrieden mit unserer Zusammenarbeit.«

Carl war sich nicht sicher, ob ihre Hände zitterten oder ob es seine müden Augen waren, die ihn täuschten. Da sie nichts entgegnete, fuhr er fort. »Ich habe von der Royal Society den Auftrag erhalten, die Forschungen im Pazifik zu intensivieren. Aus diesem Grund werde ich vor Ort auf Tahiti bleiben. Der Plan war, dass Franklin mit der Sailing Queen zurückreist. Er sollte die bis dahin gesammelten Fundstücke mitnehmen und sie auf der Rückfahrt ordnen und katalogisieren. Es war vereinbart, dass er von London aus Vorkehrungen trifft, damit ich in ein bis zwei Jahren abgeholt werde.«

Die Frau stand vor ihm, schaute nicht auf, hielt ihm den Rücken zugewandt und sortierte Zeichnungen, die überarbeitet werden mussten. Konnte sie nicht für diesen Moment in ihrem Arbeitseifer innehalten und sich ihm zuwenden, fragte Carl sich und fühlte immer noch den Druck ihrer Finger auf seiner Haut.

»Wie kannst du sicher sein, dass man dich abholt?«

»Dahinter steht ein Vorhaben der Royal Society, das vor allem von Sir Joseph Banks vorangetrieben wird. Man beabsichtigt, die Ergebnisse der Forschungen auszuwerten und zum finanziellen Vorteil der Gesellschaft zu nutzen. Du kannst dir sicher vorstellen, dass wirtschaftliche Interessen ein nicht zu unterschätzender Beweggrund sind, sich zu engagieren. Insofern waren Sir Joseph Banks und ich bei unserem letzten Gespräch einig, dass sich eine Abholung arrangieren ließe.«

Nun schaute Mary auf, die Stirn in Falten geworfen.

»Marc, du wirst sehen, es wird zusätzliche Reisen in den Pazifik geben«, versicherte Carl und richtete sich weiter auf. Das Gespräch nahm einen Verlauf, der ihn unruhig machte. Wieder schwieg sie, erneut wandte sie ihm den Rücken zu und sortierte die Unterlagen auf dem Tisch.

»Jedenfalls halte ich es nach den Erfahrungen dieser Fahrt für keine gute Idee, mich alleine auf die geplante Expedition zu begeben. Was ich sagen wilclass="underline" Ich könnte mir vorstellen, dass du mich begleitest. Wie denkst du darüber?«

Sie drehte sich nochmals zu ihm um und lehnte sich gegen den Tisch. Weder Ablehnung noch Begeisterung ließen sich in ihrer Miene ausmachen. Wieder sah sie jung aus, und wieder wirkte sie mit den vorhängenden Schultern schmächtig. »Wenn wir gemeinsam zurückbleiben«, sagte sie emotionslos, »wäre das Schiff ohne ärztliche Versorgung.«

Sie weiß es, fuhr es Carl durch den Kopf, sie weiß, dass ich erfahren habe, dass sie eine Frau ist. Sie findet meinen Vorschlag, alleine mit mir in der Wildnis zurückzubleiben, verwerflich. Sie weiß nicht, dass ich auf ihre Kompetenz baue. Carl griff nach dem Wasser und nahm einen Schluck. Er räusperte sich. »Es ist ehrenhaft, dass du dir um die Mannschaft Gedanken machst. Der Kapitän und ich haben uns über diese Situation bereits beraten. Er denkt, dass Peacock, bis das Schiff Batavia erreicht, im Notfall die Versorgung übernehmen kann.«

»Rafael Peacock? Unser Astronom?«

»Ja, warum denn nicht? Du bist kein Arzt, und auch ich bin keiner. Peacock ist uns oft zur Hand gegangen, wir haben ihn beide beobachten können, und du weißt, dass er ein Gespür für Patienten hat. Sein Vater war ebenfalls Arzt, aus diesem Grund verfügt er über medizinische Grundkenntnisse. Es gibt Schiffe, die reisen erheblich weitere Strecken ohne Arzt, wenn dieser einer Krankheit erliegt.« Carl sog die Luft ein und seufzte. »Marc«, er versuchte seiner Stimme einen eindringlichen Klang zu verleihen, »wir haben einen Auftrag, und der besteht, so grausam das klingen mag, nicht darin, die medizinische Versorgung zu übernehmen, wenn Doc Havenport ausfällt.« Er zögerte. Es war der richtige Zeitpunkt, sich zu erklären und ihr reinen Wein einzuschenken, um ihr die Möglichkeit zu geben, aufgrund der Fakten eine Entscheidung zu fällen. »Gut, wenn das so ist, dann muss ich dir etwas –«

»Lass mich einen Moment darüber nachdenken, ja?«, unterbrach sie ihn, sah ihn nur flüchtig an und verließ türschlagend die Kajüte.

»Warte, Mary, bitte warte«, rief er ihr nach, doch seine Worte verloren sich in der Stille.

Paumotu-Archipel, 16. April 1786

Zwei Tage hatte Mary ihre Kraft darauf verwendet, Carl aus dem Weg zu gehen. Zwei Tage, die sie hatten spüren lassen, dass jede Stunde, in der sie kein Wort miteinander gesprochen hatten, leer war. Gezeichnet hatte sie, Bilder beschriftet, Verzeichnisse erstellt und Seth im Beschriften der Belege des Herbariums unterwiesen. Jeden Morgen, mit dem Beginn des Reinschiffmachens, hatte sie auf dem Achterdeck gestanden, um die unruhigen Nächte durch kühlen Wind zu vertreiben, bevor die Sonne wieder die scharfkantigen Schatten der Segel und Masten aufs Schiff warf. Und immer wieder hatte sie Franklins Vorwurf im Ohr gehabt: »Du hast meinen Ruf ruiniert. Was hast du dir dabei gedacht?«