Es gab nur eine Antwort auf Carls Frage: Sie konnte ihn nicht begleiten. Sie musste jeden Skandal vermeiden. Ein Botaniker, der mit einer Frau durch den Pazifik reiste – das war ein handfester Skandal. Sie konnte ihn nicht der Gefahr aussetzen, seinen Ruf als exzellenter Wissenschaftler aufs Spiel zu setzen. Und selbst wenn keine Menschenseele jenseits des Pazifiks von ihrer Täuschung erfahren würde, so ließe sich zu zweit in der Wildnis nichts voreinander verbergen. Gar nichts. Carl würde bemerken, dass sie eine Frau war, die Nähe würde den Verrat offenbaren.
Das war der Preis, den sie für ihre Lüge zu zahlen hatte. Nähe konnte sie nicht zulassen, sie musste ihm fernbleiben und sein Angebot ablehnen.
Mary öffnete die Tür zu seiner Kajüte.
Carl saß an dem winzigen Tisch und nutzte das karge Tageslicht, das durch das salzverkrustete Bullauge fiel. Das Tintenfass war geöffnet, die Feder lag in seiner Hand, doch selbst von der Tür aus konnte sie erkennen, dass das Papier unberührt war.
»Wie geht es dir?«, fragte sie.
Carl drehte sich auf seinem Stuhl um, den Arm seitlich auf die Lehne gestützt, und musterte sie. Er antwortete nicht.
»Es tut mir leid, dass ich mich zurückgezogen habe. Ich brauchte Zeit, dein Angebot zu überdenken.«
»Was gibt es daran zu überdenken? Hast du familiäre Verpflichtungen? Wirst du zu Hause erwartet? Darüber können wir doch reden. Es gibt so vieles, über das wir reden müssen.«
Mary schüttelte den Kopf. Seine Augenringe waren verschwunden. Das Haar war frisch gewaschen, das Gesicht rasiert. Die Ärmel seines blendend weißen Hemdes waren bis zu den Ellenbogen umgeschlagen. Braun hob sich sein behaarter Unterarm gegen den hellen Stoff ab.
Du könntest es doch versuchen, ertönte die Stimme in ihrem Kopf.
Nein, das darfst du nicht. Du hast einen Entschluss gefasst, und du bist hier, um ihm diesen mitzuteilen.
Die erste Stimme hob erneut an. Selbst wenn er es irgendwann bemerken würde, was soll geschehen? Er wird dich wohl kaum im Stillen Ozean zurücklassen.
Untersteh dich. Du wirst sein Angebot ausschlagen.
Ihr Blick lag auf seinem Arm, den ausgeprägten Adern, die sich unter der Haut abzeichneten und am Handgelenk vorbeischlängelten, den Handrücken entlangfuhren und in den Fingern ausliefen. Sie hob den Kopf und schaute ihn direkt an. »Nein, niemand erwartet mich«, sagte sie betont langsam, um nicht die falsche Formulierung zu wählen, »dennoch ist es eine schwerwiegende Entscheidung, die gut überlegt sein muss, und so habe ich mich schwer damit getan.«
Ungeduld wurde in Carls Augen sichtbar, und seine Lippen pressten sich aufeinander, sodass sie zu einem blassen, schmalen Strich wurden.
Mary atmete tief durch. »Ich kann … Ich kann nicht … Ich kann doch nicht alleine nach Hause zurückkehren und dich hier der Wildnis überlassen.«
Ein Schmunzeln umspielte Carls Lippen, die wieder eine rosige Farbe bekamen und voll wurden. Er schüttelte den Kopf.
»Natürlich will ich dich bei deinen Forschungen begleiten. Danke für dein Vertrauen«, sagte sie.
Ein warmes Glücksgefühl breitete sich in ihrem Bauch aus.
***
Sir Belham hatte es ihm vorgerechnet: Neun Monate hatten sie von England bis in den Pazifik benötigt, und in wenigen Tagen würden sie Tahiti erreichen. Seth lugte über den Rand seiner Hängematte zu den Männern hinüber, die beim Grog zusammensaßen. Sie würden noch eine Weile trinken, so schnell war heute Abend nicht mit Ruhe im Mannschaftsdeck zu rechnen. Wahrscheinlich würde erst die Nachtglocke die Runde auflösen.
Der Smutje, der mit im Mannschaftsdeck saß, erhob seinen Holzbecher: »Jungs, auf die Leiber der schönsten Weiber! Bald sind wir ja da!«
Toni runzelte die Stirn. »Wie, die schönsten Weiber? Was meinsten damit?«
Seth stieß sich mit dem Bein an der Wand ab, um die Hängematte zum Schaukeln zu bringen. Jetzt geht das wieder los, dachte er verzweifelt, jetzt kommen wieder diese Weibergeschichten! Für einen Moment überlegte er, sich die Hände auf die Ohren zu pressen und den Rest des Abends so in seiner Hängematte liegen zu bleiben.
Seit er ins Mannschaftsdeck zurückgekehrt war, besaß er eine grenzenlose Narrenfreiheit, die er gern nutzte. Ob er sich tagsüber in die Hängematte legte oder beim Reinschiffmachen aufs Wasser hinaussah, niemand wagte, ihn zurechtzuweisen. Schweigend sahen die Männer über Dinge hinweg, für die sie ihm vor kurzem noch kräftige Maulschellen verpasst hätten. Selbst wenn er den gesamten Abend in seiner Hängematte verbracht und sich die Ohren zugehalten hätte, da war er sich sicher, hätte man das ignoriert.
Es war Segelmacher-John, der übertrieben laut aufseufzte und das Wort ergriff. »Das weiß doch jedes Kind«, er seufzte ein zweites Mal, »dass die Frauen in Tahiti sehr schön sind.«
»Schön? Wie schön?«, hakte Lukas nach.
Seth schaute über den Rand seiner Hängematte. Das Gesicht des Seesoldaten war rot angelaufen. Der bekommt ’nen roten Kopf, wenn er nur an Weiber denkt. Wahrscheinlich ist er doch nicht so schlau, wie ich angenommen habe. Genervt trat er noch einmal gegen die Wand.
»Die Tahitianer sind sehr sanftmütig, sie sind gute Menschen. Da kann selbst der Geringste unter ihnen mit dem König sprechen, wann immer er will. Ihre Güter verteilen sie gerecht«, fuhr Segelmacher-John fort.
Abrupt setzte Seth sich auf, und die Hängematte schwankte, dass er sich am Stoff festhalten musste, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Das klang wesentlich interessanter.
»Das will niemand hören«, rief Edison dazwischen. »Konzentrier dich auf das Wesentliche.«
»Die Frauen«, Segelmacher-John senkte die Stimme, dass selbst Seth die Luft anhielt, um beim Ausatmen nichts zu überhören, »bewegen sich anmutig. Sie haben kaum Kleidung am Leib und … Himmel, was das für Leiber sind! Wie Henry schon sagte – lasst uns auf diese Leiber trinken!«
Der halbblinde Blick hing in der Luft, und Seth war versucht, ihm zu folgen, im Glauben, dort sehen zu können, was Segelmacher-John beschrieb.
»Das schöne, dunkle Haar fließt ihre Rücken herab. Und wenn man seine Nase in diese weiche Pracht versinken lässt, dann riecht man einen leichten Hauch Kokosnuss. Diese Frauen, das sind Perlen, wie es sie nirgends wieder auf der Welt gibt.«
Es krachte. Lukas war der Holzbecher aus der Hand gefallen, regungslos saß er zwischen den Männern, und erst das Gelächter ließ ihn auffahren. Er schüttelte den Kopf und beugte sich hastig vor, um seinen Becher aufzuheben.
»Aber sie sind nicht wie die Frauen«, rief Segelmacher-John energisch in die Runde und brachte das Gelächter mit einer Handbewegung zum Verstummen, »die sich euch in anderen Häfen lustlos gegen Geld feilbieten!«
»Heißt das, sie haben Lust, und wir können dort ordentlich einen wegstecken?« Edisons Stimme klang gierig.
»Dort wird nichts weggesteckt. Die Frauen sind die Göttinnen der Liebe. Sie füttern einen mit süßen Früchten, sie ölen einem die Haut, und dann geben sie sich gern und lustvoll hin.«
Seth hörte ein Stöhnen. Er konnte nicht heraushören, von wem es kam, doch wieder lachten die Männer.
Segelmacher-John wusste, wie er die Meute zu packen bekam, abermals fuhr seine Hand in die Höhe, und sofort herrschte Stille. »Ich habe sie gesehen, die zuckenden Leiber, und ich habe das Keuchen gehört. Die Liebe ist dort ein Ritual der Religion.«
»Die Frauen sind, wie ich schon sagte, Perlen, ihre Haut schimmert wunderschön, und ihre schwarzen Augen glänzen wie die See bei Nacht. Sie werden respektvoll von den Männern behandelt, wie goldene Schätze. Und«, er schwieg kurz, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, »die Tahitianer lieben sich in aller Öffentlichkeit.«