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Ihre Finger klammerten sich an der Weste fest, als sie den Kopf hob. Das gleißende Licht blendete sie, doch zweifelsfrei erkannte sie den Umriss seiner Schultern, die Haltung des Kopfes. Er stand dort und sah herüber. Sir Carl Belham sah zu ihr herüber.

***

Sohnrey rannte den Strand entlang, dicht gefolgt von Bartholomäus, dessen Stumpf im Laufen auf- und absprang. Sie rannten Marc entgegen, der sich in den Büschen gegen zwei Wilde wehrte. Es war ein Durcheinander aus Armen und Händen, die miteinander rangen. Sofort lief Seth den beiden Matrosen hinterher.

Plötzlich sah er eine Brust, eine weiße Frauenbrust.

Jählings bremste er ab. Ein Rücken versperrte ihm die Sicht. Es waren nur Männer dort, er konnte keine Brust gesehen haben.

Bartholomäus und Sohnrey hatten Marc und die beiden Wilden erreicht und blieben stehen. Sie zögerten, und nichts geschah. Als der Wilde, der ihm die Sicht versperrte, einen Schritt zurücktrat, sah er weiße Hände, die hastig ein Hemd über einer weißen Brust zusammenzogen.

Seths Nackenhaare stellten sich auf.

Ohne den Kopf zu wenden, rief Sohnrey nach Lukas. Seine Stimme donnerte den Strand herab, und der Seesoldat hetzte den Hang hinauf. Er hatte sich für die Frauen aufgeputzt, gut sah er aus in seinem roten Mantel, der weißen Hose und mit der Muskete im Arm.

Als er die Gruppe atemlos erreichte, zeigte Sohnrey auf Marc.

»Bring sie an Bord«, sagte er laut.

Der Seesoldat schaute, als würde Sohnrey eine fremde Sprache sprechen. Die Muskete baumelte vor seinem Bauch.

»Ich sagte, du sollst das Weibsbild an Bord schaffen.«

Lukas fixierte Marc.

»Ich sage dir, das ist ein Weib. Wenn du mir nicht glaubst, kann ich es dir beweisen.«

Lukas schüttelte so heftig den Kopf, dass sein Haar sich aus dem Zopf löste und in Strähnen umherflog.

Sohnreys Arm schoss vor.

Erschrocken wich Marc zurück, doch da hatte er schon das Halstuch gepackt und riss daran.

»Siehst du? Ein Schwanenhals. Schlank und weiß. Kein Haar und kein Adamsapfel.«

Seth fühlte, dass ihm schwindelig wurde, er kniete sich in den Sand.

Die Männer setzten sich in Bewegung, langsam schritten sie dem Schiff entgegen.

Als sie ihn passierten, wollte Seth den Kopf nicht heben und musterte den Stoff der Hosen. Zwei Beine in braunem Stoff vorweg. Ein Stück dahinter drei weitere Hosen, eine weiße, eine schwarze und eine graubraune.

Im Gleichschritt liefen sie über den Strand. Die Muskete in die Höhe gerissen, schloss Lukas neben die Frau auf.

Die Männer und die Wachen der Beiboote, die am Strand verblieben waren, bewegten sich nicht. Unergründlich schauten sie, wie die vier an ihnen vorbeizogen und die Jolle bestiegen, um zum Schiff zurückzufahren.

Nat, er hat uns getäuscht. Er ist kein Mann, er ist ein Weib mit Titten! Eine Verräterin!

***

Der Kapitän stand mit Rafael Peacock auf dem Achterdeck. Wieder besprachen sie eine Karte und zeigten zur Insel. Die Schritte ließen sie aufblicken.

Die Schultern in die Höhe gezogen, blieb Mary vor Kapitän Taylor stehen. Eine Taubheit breitete sich in ihr aus. Niemand sprach ein Wort. Lukas hatte seine Waffe sinken lassen.

»Was können wir für Euch tun?«, fragte Taylor.

Mary richtete sich auf. »Ich bin eine Frau«, antwortete sie laut.

Er schaute ihr, einige Wimpernschläge lang, ins Gesicht, direkt in die Augen. »Bringt sie in ihre Kajüte«, sagte er dann zu Lukas, während er die Karte in seinen Händen zusammenlegte. Die Finger strichen mehrfach über den Falz, wobei die Nägel eine scharfe Kante im Papier hinterließen.

Der Astronom erinnerte Mary an einen Chorknaben, der böse Worte vernommen hatte. Die Augen aufgerissen, die Hand auf den Mund geschlagen, wippte sein Kopf federnd hin und her.

Mary wandte sich ab und stieg die Treppe zum Achterdeck hinauf.

Die Tür fiel hinter ihr zu, ohne dass das Geräusch sich entfernender Schritte erklang. Lukas blieb im Gang stehen. Durch das Bullauge schien Sonnenlicht und zeichnete einen hellen Streifen auf den Boden, der an ihren Füßen endete.

Das war es, dachte Mary, die Reise ist endgültig beendet. Die Taubheit wollte nicht weichen, bis in den letzten Winkel ihres Körpers war sie vorgedrungen, stellte sie ruhig und ließ sie ertragen, was auf sie zukommen würde. Sie setzte sich auf die Seekiste und wischte mit der Hand über die Scheibe des Bullauges. Auf ihrer Haut blieb eine graue Schmutzschicht zurück.

Die Insel.

Sie lag vor ihr.

Arkadien.

Sie hatte sie erreicht.

Ihr Blick fiel auf zwei Seesoldaten, die mit einem Stock eine Linie in den Sand zogen. Einige Tahitianer leisteten ihnen Gesellschaft und beobachteten, wobei sie ausholend gestikulierten, das Geschehen. Die Seesoldaten vertieften die Linie, bevor sie sich, die Arme vor der Brust verschränkt, zwischen den Tahitianern und der Linie zur Schildwacht positionierten.

Im Hintergrund luden mehrere Männer derweil Werkzeuge und Messinstrumente aus. Toni lief mit einer Axt über den Strand, wählte einen Baum mit schlankem Stamm und schlug zu. Nach wenigen Hieben kippte er, und flugs wurden die Äste abgetrennt.

Dan lief den Strand herauf und zog den Stamm zur Linie. Mit einem der Männer, die die Schildwacht bildeten, rammten sie ihn in den Sand. Kurz darauf brachte der Zimmermann einen zweiten Stamm und setzte ihn an das andere Ende der Linie. Um seine Hüfte hatte er ein Seil gebunden, das er nun abknüpfte und zwischen den Pfosten aufspannte. Zufrieden betrachtete er die Grenzanlage.

Einer der Tahitianer zuckte die Schultern und wollte die Linie passieren. Doch da öffneten die Männer in den roten Mänteln ihre Arme und schubsten ihn zurück. Der Tahitianer stürzte in den Sand. Selbst auf die Entfernung konnte Mary den Unglauben in seinem Gesicht ausmachen. Der Mann erhob sich und schlug sich den Sand aus seinem Umhang, dann trat er vor und brüllte auf. Mit der flachen Hand schlug er dem Seesoldaten auf die Brust und zeigte hinter die Linie. Dann fuhr er herum und riss seinen Umhang in die Höhe: Blank hielt er seinen tiefschwarz tätowierten Hintern in die Luft. Mit den Händen klatschte er darauf und drehte sich drohend wieder den Seesoldaten zu, die hastig hinter der Begrenzung verschwanden.

Mary schüttelte den Kopf. Wir haben zu viel von uns selbst im Gepäck. Zu vieles, was wir mit uns herumschleppen und nicht loslassen. Auch hier ziehen wir unerklärliche Grenzen und verweisen die Menschen in Schranken, dachte sie. Auch hier ist es nicht anders als daheim.

Die Tür wurde geöffnet. Lukas bedeutete ihr, ihm zu folgen.

Du hast die Wahl, beschwor sie sich. Es ist Zeit, die Grenzen zu überschreiten und die Schranken hinter dir zu lassen. Sie strich das Haar glatt, rückte den Hemdkragen zurecht und erhob sich.

***

»Wenn Ihr das wünscht, kann ich die Unterredung mit ihr alleine führen.« Kapitän Taylor lehnte sich auf dem Stuhl zurück, drückte seine Arme durch und drehte den Kopf in die eine Richtung, dann in die andere. Ein lautes Knacken war zu vernehmen. Er runzelte die Stirn und rieb sich das Genick.

Wenn du wüsstest, dachte Carl, es geht nicht nur um sie, es geht auch um mich. Ich werde bei dieser Unterredung dabeibleiben bis zum bitteren Ende.

Die Tür wurde geöffnet, und der Seesoldat ließ Mary eintreten. Sie war gekleidet wie in den vorangegangenen Tagen: Eine derbe Hose, ein leinenes Hemd, darüber eine Weste, nur das Halstuch fehlte. Und doch war etwas an ihr verändert: Ob ihr Gang schon immer so aufrecht gewesen war? Die Augen blickten dunkel und wachsam.

Furchtlos. Sie wirkte furchtlos.

Carl hob eine Augenbraue. Während seine Hände feucht geworden waren und die Unruhe seinen Leib zerwühlte, schien sie keinerlei Angst zu verspüren.