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Kapitän Taylor erhob sich und wies auf einen Stuhl. »Verzeiht mir, aber meine Umgangsformen sind auf der Reise ein wenig eingerostet. Bitte nehmt Platz und teilt uns doch erst einmal Euren Namen mit. Ich gehe nicht davon aus, dass Ihr auf den Namen Marc Middleton hört.«

Die Form wurde gewahrt. Kapitän Taylor wahrte die Form. Erleichtert atmete Carl ein.

»Ich bin Mary Linley. Die Tochter des Arztes und Botanikers Francis Linley aus Plymouth.«

Kapitän Taylor beugte sich vor. »Ich hörte von ihm. Er hat Euch ausgebildet, nehme ich an? Von ihm habt Ihr Euer Wissen?«

Sie nickte, senkte den Blick, und Carl bemerkte die langen Wimpern. Er schluckte.

»Doch auch wenn er Euch umfassend ausgebildet hat, kann er wohl kaum den Plan gehabt haben, Euch auf einem Schiff um die Welt reisen zu lassen, nicht einmal, wenn es unter meiner Führung steht.«

»Nein, sicher hat mein Vater dies nicht für mich in Erwägung gezogen. Es war meine Entscheidung, als Wissenschaftler arbeiten zu wollen. Es tut mir leid, aber ich sah keine andere Möglichkeit, als mich solcher Mittel zu bedienen.«

»Was man auch immer davon halten mag«, Kapitän Taylor schmunzelte, »Euer Verhalten hat Euch weit gebracht. Ihr werdet, so sieht es zumindest derweil aus, die erste Frau sein, die die Welt umsegelt.«

Galanter konnte man einer Frau, die ein ganzes Schiff über Monate hinweg genarrt hatte, kaum gegenübertreten. Carl erinnerte sich an den Moment, in dem er von Marys Betrug erfahren hatte. An den brennenden Wunsch, sie zu sich zu zitieren und ihr die Leviten zu lesen, ihr zu demonstrieren, dass sie so nicht mit ihm umgehen konnte. Das kaum zu bremsende Bedürfnis, Worttiraden über sie zu ergießen, um seine Wut zu lindern. Für Kapitän Taylor schien all dies jedoch nicht viel mehr als ein Kavaliersdelikt zu sein, eines, das eben von einer Frau begangen worden war.

»Carl«, die Stimme des Kapitäns riss ihn aus seinen Gedanken, »Ihr seid so schweigsam. Wie steht Ihr zu der Erkenntnis, dass Euer Gehilfe eine junge, charmante Dame ist?«

Mary sah zu ihm herüber, doch er wich ihrem Blick aus und suchte nach Worten. »Sicherlich wird Miss Linley die erste Frau sein, die den Globus umrundet, da teile ich Eure Meinung. Und ich würde mich sogar zu der Feststellung hinreißen lassen, dass sie uns sehr gute Arbeit geleistet hat.« Für einen Moment zögerte Carl, holte Luft und fügte hinzu: »Doch halte ich ihre Entscheidung, sich an Bord eines Schiffes zu begeben, für sehr riskant. Ich für meinen Teil wusste mir, um ihre Sicherheit zu gewährleisten, nicht anders zu behelfen, als darüber Stillschweigen zu bewahren.«

Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass Mary zusammenzuckte, doch er fixierte sein Gegenüber. »Ich befürchte, ich muss mich erst einmal bei Euch entschuldigen, Kapitän Taylor. Mir war die Tatsache, dass Miss Linley mit uns reist, bereits geraume Zeit bekannt. Ich habe mich dahingehend nicht geäußert, weil ich davon ausging, dass eine Frau in der Rolle eines Mannes an Bord eines Schiffes mit einer fünfundneunzigköpfigen«, er pausierte kurz, um das folgende Wort in die Länge zu ziehen, »männlichen Besatzung am besten geschützt ist.«

Tahiti, 28. April 1786

Gedanken waren rund. Sobald sie einem entfielen, rollten sie davon und waren nicht mehr zu greifen. Und kaum, dass Seth die Insel betreten hatte, war ihm der Gedanke an die Heimat entfallen. England. Kaum etwas war geblieben. Vielleicht war da eine Erinnerung, blass wie die Sonne über St. Albans, die oftmals die tiefhängenden Wolken nicht durchstoßen konnte. Eine Erinnerung, so blass wie die Gesichter der Menschen in den feuchten Häusern des Städtchens.

Hier, auf Tahiti, führten die Menschen ein schönes Leben. Das erkannte er sofort: Sie führten ein schönes, buntes Leben. Der Himmel und das Meer, die waren blau. Die Wellenkämme waren weiß, und die Wälder waren dicht und dunkelgrün. Und allerorten gab es Blüten, die rosafarben, in sattem Gelb oder tiefem Rot um seine Aufmerksamkeit rangen. Er hatte sogar Farben entdeckt, für die er keine Namen kannte.

Doch das wirkliche Wunder der Insel war der Tagesablauf. Von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne ließen die Tahitianer sich wecken. Die Luft war in den frühen Morgenstunden noch ein wenig kühl und gleichermaßen schon von der kommenden Wärme des Tages erfüllt. Weich, dachte Seth, die Luft hier ist weich, als hätte die Nacht sie klargewaschen. Kaum waren die Wilden aufgestanden, verließen sie ihre Hütten und liefen zu den Bächen, die sich über die Insel zogen. Sie entkleideten und wuschen sich, schwatzten und scherzten dabei. Nach dem Bad kümmerten sie sich um ihre alltäglichen Aufgaben, und wer keine zu verrichten hatte, der lief umher oder setzte sich zum Nachbarn. Sobald die Sonne zu hoch stieg, wurden alle Tätigkeiten, die Arbeiten, die Spaziergänge und selbst die Spiele der Kinder, eingestellt. Gemeinsam zog man sich in den Schatten zurück, manche strichen sich das Haar mit Kokosöl, andere dämmerten ein, und erst gestern hatte ein Mann die Nasenflöte gespielt. Gegen Mittag speisten die Tahitianer, wobei hier Männer und Frauen getrennt voneinander aßen. Wenn die Hitze des Tages nachließ, widmeten sie sich wieder ihren Tätigkeiten.

Es schien Seth ein Leben zu sein, das aus wenig Arbeit und jeder Menge Müßiggang bestand. Ein Leben, das er auch führen wollte, ausgefüllt mit Tanz, Musik und Bädern in den Bächen. Und die Tahitianer waren freundlich, nicht so grob wie die Männer an Bord. Aber wie sollte man bei diesem Leben auch übellaunig werden? Am Abend speisten sie noch einmal und nahmen ein Bad, um sich dann zur Ruhe zu begeben.

Es ist ein schönes Leben. Es könnte mir gefallen, und wem würde schon auffallen, wenn ich bei der Abfahrt fehle? Niemand war ihm geblieben, und selbst Marc war verschwunden. Auch wenn keiner mit ihm darüber sprach, wusste Seth, was er gesehen hatte. Marc war eine Frau, und ihr richtiger Name, das hatte er sich erlauscht, war Mary Linley.

Am ersten Tag hatte Lukas vor ihrer Kajüte gewacht, sie hatte nicht hinaus und niemand hatte zu ihr hinein gedurft. Am Abend, so munkelte man, war sie vor den Kapitän geführt worden, und auch Sir Belham war bei diesem Gespräch dabeigewesen. Und so hatten sie darauf gewettet, ob Kapitän Taylor das Weib in Ketten legen und in den Verschlag sperren oder sie gar der Auspeitschung unterziehen würde. Sie alle hatten ihren Wetteinsatz verloren, denn es war nichts geschehen.

Bis heute nicht.

Die Frau war wieder in ihrer Kajüte verschwunden, und Lukas hatte nicht mehr Wache schieben müssen. Die Männer gingen bald dazu über, die Nägel aus den Wänden zu ziehen und jedes Metallstück, dessen sie habhaft werden konnten, zu entwenden. Warum sollten sie Zeit auf ein Weib mit kurzen Haaren, das auch noch Hosen trug, verschwenden? Dort auf der Insel gab es alles, was sie sich in ihren Fantasien erträumen konnten. Alles war gegen ein kleines Stück Metall, eine Glasperle oder einen Fetzen Leintuch zu ertauschen.

Seth lief den Strand entlang. Hier, am Wasser, hatte er seine Ruhe. Seit der Kapitän verkündet hatte, dass es nur ein kurzer Aufenthalt auf der Insel werden würde, schien es, als hätte er dazu aufgerufen, dass die Männer das Paradies noch schneller auskosten sollten. Das Mannschaftsdeck und auch die Insel waren zu einem einzigen Stöhnen schwitzender und sabbernder Kerle geworden. Er hatte Männer gesehen, deren Ärsche über Mädchen auf- und abwippten, die kaum älter sein konnten als er selbst. Aber alle schienen Vergnügen an diesen Verderbtheiten zu finden, nur ihn ödete es an. Dass überhaupt noch Wachen besetzt und Güter nachgefüllt werden konnten, erstaunte ihn.

Er schoss einen Stein ins Wasser. Nat, du fehlst mir. Hier könnten wir Vögel abschmeißen, vom Morgen bis zum Abend. Er beugte sich vor, um sich einen rundgewaschenen Stein, den die Wellen vor- und zurückschoben, zu greifen. Als er sich aufrichtete, sah er zwei Füße, direkt neben sich im Wasser. Er sprang beiseite.