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»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.«

Was macht die denn hier?, durchfuhr es ihn. Darf die von Bord? Wer hat die zur Insel gerudert? Er kniff die Augen zusammen und trat noch einen Schritt zurück. Sie trug die Kleidung, in der er sie kannte: das Hemd, die Weste, die weite Hose. Das Gesicht, dachte er, das ist ein Weibergesicht. Warum hast du das nie gemerkt?

»Bist du mir böse?«

Jetzt konnte er es auch hören. Die Stimme war viel zu hell. Nicht einmal seinen Ohren konnte er mehr trauen. Er drehte sich um und lief davon. Nach wenigen Schritten stolperte er und fiel, mühsam rappelte er sich auf und rannte nass und sandig weiter. Es war ihm egal. Er wollte weg, weit weg, irgendwohin, wo er alleine sein konnte.

***

Jetzt hast du die Grenzen überschritten. Du hast ihnen gesagt, dass du eine Frau bist und dass du wissenschaftlich arbeiten willst.

Der Verschluss ihrer Botanisiertrommel klickte, als Mary ihn schloss.

Jetzt wissen alle, dass du, eine Frau, zeichnest, katalogisierst und sammelst, aber du tust es allein. Niemand spricht mehr mit dir. Der Kapitän, gut, er ist freundlich. Doch was nützt es? Was nützt es, Grenzen zu überschreiten, wenn dahinter niemand mehr ist, der dir begegnet?

Sie schob die Mütze in den Nacken und strich sich über die nasse Stirn. Die Sonne stand im Zenit, und der Schatten des Maulbeerbaumes lud ein, sich einen Moment zu erholen. Zwei Fregattvögel zogen ihre Bögen am zartblauen Himmel.

Sie sank auf den Boden. Vor ihr, in der Bucht, schwankte das Schiff auf den Wellen.

Carl. Ihre Finger tasteten über das Medaillon, das sie in der Innentasche ihrer Weste trug. Ihre Lippen formten seinen Namen. Carl. Seine wohlgesetzten Worte am Ende des Gespräches mit dem Kapitän hatten ihr den Atem genommen. Er hatte um ihren Betrug gewusst, doch er hatte sich nicht dazu geäußert, wie lange schon. Der Kapitän war Gentleman genug gewesen, in ihrer Gegenwart nicht genauer darauf einzugehen. Freundlich lächelnd hatte er sie aufgefordert, die Kapitänskajüte zu verlassen, sich frei zu bewegen und gern die Insel in Augenschein zu nehmen. Hätte Lukas nicht im Gang gestanden, dann hätte sie sicher ihr Ohr ans Holz der Tür gepresst, um zu erlauschen, was die beiden Männer noch miteinander zu besprechen hatten.

Ob Carls Angebot noch galt, sie mit auf die Insel zu nehmen? Oder würde er sie nun mit der Sailing Queen nach Hause schicken? Die Vorstellung ließ sie frösteln. Erst hatte sie den Gedanken gefürchtet, er könnte mit ihr die Zeit auf Tahiti verbringen und in ihr nur den Mann sehen. Doch schlimmer, geradezu schmerzhaft, war der gänzlich neue Gedanke: dass er sie als Frau wahrnahm und sie aus diesem Grund von der Arbeit ausschloss. Dass sie nach Hause reisen musste, vielleicht ohne ein klärendes, zumindest abschließendes Gespräch, und dass sie ihn nie wiedersehen würde.

»Geht es dir gut?«

Ein großgewachsener Tahitianer stand vor ihr, und obwohl er ihre Sprache beherrschte, schrak sie zusammen. Ihr Blick wanderte umher, doch niemand war in der Nähe, ihr im Notfall beizustehen. Sie schaute auf seine Hände und nickte.

»Du bist eine Frau.«

Sie begann zu zittern.

Er öffnete die rechte Hand, und in der rosigen Innenfläche lag eine Zinnfigur. »Du bist eine Frau, dann hast du Kinder. Hier, nimm ihn.«

»Ich habe keine Kinder«, sagte sie leise, und ihr Zittern verstärkte sich.

»Du wirst Kinder bekommen. Ein Freund hat ihn mir geschenkt. Ich möchte ihn dir zur Begrüßung übergeben.«

Der Mann beugte sich vor, öffnete ihre Hand und legte die Zinnfigur hinein. »Es ist ein Reiter«, sagte er und lächelte. Dann verschwand er.

***

Wie eine Traube hingen die Kanus der Tahitianer an der Sailing Queen. Das Deck war überfüllt mit Wilden, die nun ihrerseits das Schiff in Augenschein nehmen wollten. Verdammter Mist, was war das für eine fixe Idee, an Bord zurückzukehren, fluchte Seth innerlich. Hier wimmelt es von Fremden, in jeder Ecke des Schiffes wühlt irgendeiner von ihnen herum. Er mochte die Tahitianer, aber erkannte denn niemand, dass er seine Ruhe wollte, nur für einen Moment? Dass ihm das Gedränge widerwärtig war? Ständig griffen Männer und Frauen in seine Haare, es war unverkennbar, dass der blonde Ton sie zu begeistern schien. Begriffen sie denn nicht, dass er nicht berührt werden wollte? Erneut legte sich eine Hand auf seine Schulter, der feste Griff ließ ihn aufmerken.

»Du kommst jetzt mit«, hörte er Mary Linley sagen, erstaunt über die Strenge in ihrer Stimme.

Wütend riss er seine Schulter aus ihrer Hand, die hernach umso fester zugriff. Ich hasse dich, ich hasse dich. Ich hasse dich, dachte er und traute sich nicht, auch nur ein Wort zu sagen.

Die Frau schob Seth in ihre Kajüte und deutete mit einem Kopfnicken an, er solle sich auf die Koje setzen. Die Tasche warf sie achtlos neben ihn und wandte sich der Seekiste zu. Die Scharniere mussten rostig geworden sein, sie knarrten, als die Frau den Deckel öffnete. Erst hob sie mehrere Bücher heraus und stapelte sie neben sich, dann folgte das Schreibzeug.

Seth starrte auf die offene Tasche. Die üblichen Utensilien, die er inzwischen einwandfrei benennen konnte: Glasphiolen, Botanisiertrommel, Skizzenblock, Messer …

Was war das?

Auf dem Boden der Tasche lag etwas Silbernes. Etwas Glänzendes. Schnell schaute er zu Mary Linley hinüber. Sie war dabei, die Bücher wieder in die Kiste zu räumen.

Langsam fuhr seine Hand über den Stoff, an der Botanisiertrommel vorbei, und packte zu. Obwohl das Ding klein war, fühlte es sich für seine Größe schwer an. Kurz öffnete er die Finger: eine Zinnfigur. Ein Reiter auf einem Pferd. Noch einmal schaute er zu ihr hinüber. Unauffällig verschwand der Reiter in seinem Hosenaufschlag. Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich, dachte er noch einmal und faltete zufrieden die Hände im Schoß.

»Entschuldige, dass ich eben derart grob zu dir war«, sagte die Frau und wandte sich ihm wieder zu.

»Macht nichts«, sagte Seth und winkte ab. Großzügig fand er sich und geschickt. Sehr geschickt.

»Mir war es wichtig, noch einmal kurz mit dir zu sprechen. Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Mein Name ist Mary. Mary Linley.«

Das weiß doch inzwischen jeder an Bord. Kann ich jetzt gehen? Er sah auf seine Hände, die Nägel musste er sich schneiden. Sie waren lang geworden und sahen weibisch aus.

Die Frau wartete einen Moment, erst dann fuhr sie fort: »Sicher, ich kann nichts mehr gutmachen, nichts ungeschehen machen, aber ich möchte dir diesen Brief geben. Bitte lies ihn irgendwann, wenn du ein wenig Zeit hast, ja?«

Seth hatte keine Lust, sich weiteres Gesäusel anzuhören, sprang von der Koje und fasste nach dem Brief. »In Ordnung, mache ich«, rief er und verließ eiligst die Kajüte.

Vor der Tür blieb er stehen und holte den Reiter aus dem Hosenumschlag hervor. Ein Grinsen zog sich über sein Gesicht.

Tahiti, 2. Juni 1786

Wir haben ihnen wieder Schweine überlassen. Dieses Mal haben wir im Austausch jedoch nicht einen Nagel pro Schwein erhalten, wir haben ihnen zehn Schweine gegeben, und dafür haben sie uns eines ihrer Beiboote nachgebaut.

Nun sind sie weg. Das Schiff hat uns längst verlassen. Am Abend, bevor die Fremden fuhren, haben sie noch ein Lichterfest mit uns gefeiert. Sie haben wieder Blitze und Sterne hervorgebracht, heulende Blitze und Sterne, die am Himmel aufleuchteten und dann zerfielen. Allesamt, ob Kind, ob König, haben wir am Strand gestanden und uns daran erfreut.