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Sie wollte ihn schmecken.

Sie wollte mit ihrer Zunge seinen Mund ertasten, ihn erforschen und erobern.

Seine Lippen waren geschlossen. Fahrig tasteten seine Augen ihr Gesicht ab, die Stirn, die Augen, den Mund. Er hob die Hand. Schob sie unter ihr Kinn und zog sie an sich. Dann hielt er inne. Keine Handbreit vor ihrem Gesicht hielt er inne. Sie spürte seinen Atem. Und dann küsste er sie. Jetzt weiß ich, warum ich losgezogen bin, die Welt zu entdecken, fuhr es ihr durch den Kopf.

Die Umstehenden begannen, erneut zu klatschen, und rückten von ihnen ab. Mary schauderte. Sie machen uns Platz. So schamlos können wir nicht sein. Eine weiche Frauenstimme sang engelsgleich, sanft wie Carls Zungenspitze, die ihren Hals entlangfuhr.

»Mein Gott, bist du schön.« Carl lachte ihr leise ins Ohr, der kehlige Klang seiner Stimme machte sie verrückt. Sie presste ihren Unterleib gegen seinen Oberschenkel und küsste seine weichen Lippen, dass ihr der Atem ausblieb. Er schob seine Hände ihren Körper entlang, hoch auf ihre Brust. Das Zittern hatte ihren gesamten Körper erfasst.

»Ich will dich«, hörte sie sich sagen. Es war natürlich so. Es war richtig so.

Carl hob den Kopf, legte seine Hände um ihr Gesicht und zwang sie, ihn anzuschauen. »Hier?«

Sie konnte den Blick nicht von ihm wenden. Da war nur er, niemand sonst. Ein rhythmisches Klatschen, vielleicht ein lieblicher Gesang, aber beides weit entfernt.

Carl beugte sich vor und öffnete die Knöpfe an ihrem Hemd. Sie spürte, dass auch seine Hände bebten. Ein glucksendes Lachen presste sich durch ihre Kehle. Sie lachte und suchte seine Lippen.

Er zog sie zu Boden. Das Gras war weich, seine Haut kühl und seine Lust heiß, als er sich in sie schob.

Ja, schrie es in ihr. Ja!

Mehr Platz blieb nicht in ihrem Kopf.

Tahiti, 3. Juni 1786

Sie lag in seinem Arm. Endlich hatten sie eine Nacht in ihrer Hütte miteinander verbracht, hatten beieinandergelegen und den weichen Schein der Öllampe genutzt, um sich in ihrer Nacktheit aneinander sattzusehen. Mehrere Stunden hatten sie sich nicht gerührt, sich festgehalten und angeschaut und immer wieder gelacht. Leise gelacht, um das Glück nicht zu verschrecken. Zeit hatten sie sich gelassen, bis sie sich wieder geliebt hatten, um es dann sofort noch einmal zu wiederholen.

Die Sonne stand längst am Himmel, und sie lag in seinem Arm. So schön wie in der Nacht, das Haar zerzaust, die Haut weich vom Schlaf, die Lippen leicht geöffnet. Carl bewegte sich nicht, um nichts in dieser Welt wollte er sie wecken, um den Zauber dieses Moments nicht zu zerstören.

Die Bilder der letzten Monate liefen ineinander. Mary, die hart arbeitete, meist schon am Morgen über den Tisch gebeugt stand und oft noch tief in der Nacht am Sortieren war. Wie sie klaglos auf Feuerland durch die Kälte stapfte. Ihre Tränen während der Amputation. Ihre Anspannung, als sie die Männer auf venerische Leiden untersuchte. Innerlich lachte er auf und fuhr, um sich abzulenken, mit dem Blick den Schwung ihrer Augenbrauen nach.

Jetzt gab es keinen Grund mehr, es zu leugnen: Er hatte sie gewollt. Von dem Moment an, in dem er gewusst hatte, dass sie eine Frau war, hatte er sie gewollt. So wie sie war. Vielleicht sogar gerade weil sie so war. Der Gedanke, Marc nun Mary zu nennen und dabei eine Erleichterung zu spüren, hatte ihn beschämt und gleichermaßen eine Last von ihm genommen.

Und jetzt? Wieder rollte ein Lachen durch seinen Brustkorb.

Ihre Wimpern waren nussbraun und leicht gebogen. Irgendwann würde er sie zählen, sie hatten Zeit, hier in ihrem Paradies.

Tahiti, 18. Juni 1786

Konzentriert sah Carl auf das Papier in seinen Händen. »Georg Forster schätzte, dass Tahiti hundertzwanzigtausend Bewohner hat. Die Insel besteht aus zwei Halbinseln, die wiederum in dreiundvierzig Distrikte unterteilt sind. Wir können davon ausgehen, dass Forsters Einschätzung, dass jeder Distrikt zwanzig Kriegskanus besetzen kann, jeweils mit einer fünfunddreißigköpfigen Bemannung, auch heute noch Gültigkeit besitzt«, las er vor, wobei er vor Mary auf und ab lief. Er trug nur die enganliegende Kniebundhose. An einen Baumstamm gelehnt, genoss sie den Anblick der verhüllten Oberschenkel und seiner nackten Waden.

»Damit kämen wir bei ungefähr dreißigtausend Wehrhaften an«, fuhr er fort, »wobei das Verhältnis von Wehrhaften und Unwehrhaften eins zu vier ausmacht, ein Verhältnis, das in Europa anders ausfiele, da dort auf einen wehrhaften Mann weitaus mehr unwehrhafte Menschen kämen.« Er hob den Kopf und runzelte die Stirn. »So weit kann man dem Text folgen, oder?« Er strich ihr über das Haar, nahm eine Strähne und drehte sie um seinen Finger.

Sie sah zu ihm auf und nickte.

Zufrieden ließ er die Strähne fallen, hob das Papier an und setzte seinen Vortrag fort: »Die Flotte besteht aus einzelnen, aber auch aus doppelläufigen Kanus.«

»Sei mir nicht böse, aber das Wort ›doppelläufig‹ versteht man in diesem Zusammenhang nicht.«

Er blieb stehen, runzelte wieder die Stirn, und die weich geschwungenen Brauen wölbten sich über den Augen. Sein Blick umfasste ihre Brüste. Sie schaute an sich herab, die Höfe zeichneten sich unter dem dünnen Gewebe ab.

»Es war einfacher, als du noch die Brustwickel getragen hast. Wie soll man sich da auch konzentrieren«, sagte er und grinste.

Mary lachte auf und schüttelte den Kopf.

»Na, ich meine mit doppelläufig, dass zwei Kanus nebeneinander liegen.«

»Ich weiß, was du meinst, aber wer diese Boote noch nie gesehen hat, bekommt keine Vorstellung davon. Beschreibe es ausführlicher, oder setze ein Bild daneben.«

»Gut, dass du so genau zuhörst. Dann werden wir eine Zeichnung einfügen. Kann ich weiterlesen?«, fragte er und nahm seine Wanderung wieder auf. »Einige haben überdachte Hinterteile, teils um von den Befehlshabern als Nachtlager genutzt zu werden, teils um als Proviantschiff zu dienen. Einige Schiffe führen ausschließlich Pisangblätter mit sich, die für die Toten bestimmt sind. Dies sind die Schiffe der Götter.« Für einen Moment sah er auf. »Irgendwelche Anmerkungen?«

Das Haar auf seiner Brust kräuselte sich, von der Sonne ausgeblichen, setzte es sich gegen die braune Haut sichtbar ab. Er sieht inzwischen aus wie ein Landarbeiter, bemerkte Mary. Sonnenverbrannt und muskulös. Seine englische Blässe ist dahin, und es steht ihm wunderbar. Wer fragt mich eigentlich, wie ich mich da konzentrieren kann?

»Und? Irgendwelche Anmerkungen?« Wieder lief er an ihr vorbei und strich über ihren Nacken.

»Was macht man mit den Blättern? Werden die Toten darin eingewickelt? Oder nur damit zugedeckt?«, fragte Mary und spürte die Gänsehaut, die seine Finger hinterließen.

»Hmmm, ich weiß es nicht. Gut, da müssen wir Owahiri fragen.« Er kratzte sich am Kopf. »Meinst du, das interessiert überhaupt irgendjemanden?«

»Allerdings. Lass uns diesen Aufsatz noch bis zum Ende durchgehen.«

Er seufzte und hob die Stimme: »Die Bewaffnung der Kanus besteht aus Speeren, langen Keulen und Streitäxten. Zudem werden Steine mitgeführt, die einzige Bewaffnung, mit der man den Gegner auf eine große Entfernung hinweg erreichen kann.« Absichtlich ließ er das Papier in den Sand fallen. »Mary, egal, wen es interessiert, mich interessieren die militärische Streitkraft und die kriegerischen Auseinandersetzungen der Tahitianer jetzt keinen Deut.« Er kniete sich vor sie und legte seine Hände auf ihre Arme. »Alles hat seine Zeit. Und jetzt ist keine Zeit für den Krieg.«

Sie strich über seine Wange. Wie mühsam war die Arbeit geworden, seit er in ihr Leben getreten war. Beständig kamen ihr wunderliche Dinge in den Sinn: Sie wollte singen, sie wollte schön sein für ihn, sie wollte, während sie zeichnete, aufstehen, den Pinsel nehmen und seinen Leib damit erkunden, sie wollte tanzen, mit ihm durch die Wellen springen und ihn lieben. Ihn in sich spüren. Immer und immer wieder.