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Für einen Augenblick glaubte sie, dass seine Augen jede ihrer Bewegungen, jede Geste ihrer Hände verfolgten, dass er wachlag und bei ihr war. Ein schöner Gedanke. Sie senkte den Kopf und schmiegte ihre Wange gegen die weiche Haut seiner Handinnenfläche.

Mein gesammeltes Wissen! Alles, was ich gelernt habe, muss ich für Carl nutzen. Ich brauche einen Plan. Ich muss eine Diagnose stellen und mir genau überlegen, wie ich ihn behandle. Jede Minute zählt. Meine Angst lähmt mich, ich darf sie nicht gewinnen lassen.

Ein angenehm kühler Wind wehte, und der Sand war noch von der Sonne angewärmt. Mary lief zum Meer hinunter und ließ das Wasser über ihre Füße spülen, die Kälte weckte die Lebensgeister. Um eine Diagnose stellen zu können, musste sie zusammentragen, was sie bisher über das Fieber gehört hatte. Es begann mit Abgeschlagenheit und Müdigkeit, Gliederschmerzen und Kopfweh, und sobald das Fieber ausbrach, schnellte es hoch und war nicht zu senken. Es kamen unterschiedliche Symptome hinzu, bei einigen Patienten Erbrechen, bei anderen Hautausschläge. Die Benommenheit steigerte sich bei allen im Verlauf der Erkrankung. Es trat Blut im Stuhl oder auch im Urin auf. Und in der Haut. Großflächige, rote Einblutungen in der Haut, die sich nach und nach dunkelblau färbten.

Nein.

Nein, das durfte nicht passieren.

Ein Fieber, an dem man verblutete. Dagegen gab es kein Mittel. Sie hatte nichts, was Abhilfe schaffte, aber gleichermaßen konnte jede Maßnahme die gesuchte Linderung bringen. Und genau aus diesem Grund musste sie alles versuchen. Wirklich alles.

***

Sie hatte sein Kommen nicht bemerkt. Für einen Moment stand Owahiri im Eingang der Hütte und sah zu, wie Carl in unruhigem Schlaf auf der Matte lag. Sein Atem rasselte, und die Gesichtszüge waren verzerrt.

Mary kniete auf dem Boden, wo sie mit einer Kokosschale zwei Kuhlen im Sand aushob, eine für die Schulter und eine für die Hüfte. Als sie sich ausstreckte, um sich zum Schlafen niederzulegen, entdeckte sie ihn. Die Öllampe flackerte und verlosch, nur das Licht seiner Fackel erhellte die Hütte.

»Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte er leise.

Mary richtete sich auf.

»Wie geht es dir? Und wie geht es Carl?« Owahiri steckte die Fackel in den Sand und betrat die Hütte.

»Danke, mir geht es soweit gut. Carl schläft. Und du geh lieber, lass uns alleine. Nicht, dass dich das Fieber auch befällt.«

»Keine Angst. Ich habe den Schutz der Götter erbeten.« Owahiri hob die Arme in die Höhe, mehrere Kokosnüsse, von Revanui in Netze gebunden, schwangen an seinem Handgelenk. Er stellte sie neben Mary auf den Boden. »Frisches Wasser.«

Runde Öffnungen waren in die Schalen geschlagen worden, schwarzglänzend schwappte das Wasser darin hin und her. Vorsichtig löste Owahiri ein Bananenblatt-Päckchen aus einem der Netze und faltete es auseinander. »Die Männer und ich waren im Wald, wir haben Kava geholt.«

Er begann, die Kava-Pflanzen auf dem Bananenblatt vor ihnen auszubreiten. Er ergriff eine Kokosnussschale, füllte sie mit Wasser und reichte sie Mary. Sie trank in kleinen Schlucken, während er den Pflanzen die Wurzeln abdrehte. Dann erhob er sich. Inzwischen kannte er die Hütte so gut wie die seine. Er öffnete die Holzkiste, nahm eine Steinschale heraus und füllte die Wurzeln hinein. »Schäle die Wurzeln.«

Ohne den Blick von ihm zu nehmen, begann Mary die Arbeit, die er ihr aufgetragen hatte.

Owahiri setzte sich wieder neben sie, nahm das erste geschälte Wurzelstück und schob es sich in den Mund. Langsam zerkaute er es, wobei er es von einer Wange in die andere wandern ließ. Dann ergriff er eine Kokosnusshälfte und spuckte den Inhalt seines Mundes hinein. Als er die Schale zur Hälfte mit einem graublasigen Schleim gefüllt hatte, tippte er auf Marys Hand. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor. Als hätte er sie geweckt, schaute sie auf ihre Hand und lockerte ihren Griff um das Messer. Sorgfältig zerkaute er die restlichen Wurzeln, spuckte sie in die Schale und träufelte Wasser und Kokosöl hinein, bis ein gräuliches Gebräu entstand.

»Brauchst du ein Tuch?«, fragte Mary, und ihre Stimme klang angestrengt. »Um den Brei abzuseihen?«

Owahiri schüttelte den Kopf. »Nein, frisch ist er gut.«

Mary nahm die Schale in die Hand, kniete sich vor Carl und berührte seine Schulter, strich zaghaft darüber, bis er die Augen öffnete. Sein Blick war glänzend und für einen Moment orientierungslos. Als er die Schale sah, hob er den Kopf.

Owahiri wusste um den scharfen Beigeschmack des Trunks, doch Carl verzog keine Miene. Sein Schlucken war das einzige Geräusch in der Hütte, gelegentlich setzte er ab und kaute. Wahrscheinlich waren die Wurzeln nicht so fein zerkaut, wie er angenommen hatte. »Gib ihm morgen den Rest«, sagte er leise zu Mary und strich ihr kurz über den Arm. »Und schlaft ein wenig.«

Er spürte, dass Marys Blick ihm folgte, als er die Hütte verließ. Die Fackel ließ er im Sand stecken, so konnte sie den beiden noch für einen Moment Licht spenden.

Solltest du morgen nicht mehr unter uns weilen, Carl, werden die Götter sich mit Freuden deiner annehmen. Sie werden wissen, dass die Menschen einen wie dich vermissen werden. Unser Schmerz wird ihnen zeigen, wie wertvoll du uns bist, dachte Owahiri und lief in die Dunkelheit hinein.

Tahiti, 12. Juli 1786

Am Tag zuvor war der Wind vom Süden über die Insel hinweg zum Strand getrieben. Blütenduftgesättigt war er aufs Wasser hinausgelaufen und hatte sich im Nirgendwo verloren. Heute wehte ein anderer Wind. Er kam vom Norden und roch nach Meer, nach Algen, ein wenig nach Fisch und eine Nuance nach warmem Sand. Mary sog den Geruch tief ein. Ein Atemzug, ein zweiter Atemzug, erst dann öffnete sie die Augen. Neben ihr lag Carl, sein Gesicht dicht vor ihrem. Sie bewegten sich nicht, und mit ihren Blicken hielten sie sich aneinander fest. Noch immer konnte sie sich nicht an ihm sattsehen. Es ist fast so wie vor wenigen Tagen. Vielleicht habe ich alles nur geträumt. Gleich fasst er in mein Haar und streicht mir über das Gesicht. Dann lieben wir uns, ganz zärtlich kosten wir jede Berührung wortlos aus. Und erst, wenn wir einander wieder loslassen können, beginnen wir unser Tagewerk.

»Wie geht es dir?«, fragte sie und wusste, dass diese Frage das Eingeständnis war, dass er ihr nicht über das Haar streichen, sie lieben und mit ihr das Tagewerk beginnen würde. Seine Stirn fühlte sich kühler an. Eine gesunkene Morgentemperatur war zwar der Sieg über die Nacht, doch sie ließ noch keinen Schluss über den Verlauf der Fieberkurve am Tag und noch viel weniger über den Fortgang der Krankheit zu.

»Besser, viel besser. So eine durchschlafene Nacht lindert so manche Beschwerden«, sagte er, und beide wussten, dass er log. Sie reichte ihm den restlichen Kava-Sud vom Abend und hob seine Decke an, um die Beine freizulegen.

»Ich gehe die Wickel ausspülen und mache dir dann die Schüssel für die Morgenwäsche fertig.«

Carl nickte.

Ich bin wie eine Mutter, die ihre Brut pflegt, und er lässt sich umsorgen. Dieser Baum von einem Mann ist inzwischen zu schwach, meine Zuwendung abzuwehren, dachte sie, biss sich auf die Lippe und verließ die Hütte.

Das Meer lag spiegelblank und schimmerte in hellem Türkis. Mary zerrte sich Hemd und Hose vom Leib und rannte mit den Wadenwickeln in der Hand ins Wasser. Die Kälte ließ ihr Herz pumpen und ihren Atem schneller gehen. Als sie sich an die Wassertemperatur gewöhnt hatte, legte sie sich für einen Moment auf den Rücken und ließ sich treiben. Bei Tageslicht verloren die Ereignisse, die nachts bedrohlich erschienen waren, ihren Schrecken. Noch einen Moment genoss sie das seichte Wogen der Wellen und schwamm dann zum Strand zurück. Ihre Kleidung konnte sie später holen, beschloss sie und lief nackt auf die Hütte zu, nur die Wickel in den Händen, um sie Carl wieder nass und kühl anzulegen.