Carl hatte das nasse Tuch über die Schüssel gedeckt. Weiß schimmernd verbarg es den Inhalt. Kaum, dass sie ihm den Rücken zudrehte, zog sie am Stoff.
Darunter lag rot das Blut.
Mary lief an den Rand des Strandes und schüttete alles über die Pflanzen. Ihr war schwindelig. Sie beugte sich vor und übergab sich. Die Hände auf die Knie gestützt, wartete sie, bis sich ihr Magen beruhigte. Mehrmals atmete sie tief ein und aus, bevor sie sich wieder aufrichtete.
Linkerhand, am Ende der sichelförmigen Bucht, liefen einige Kinder am Strand entlang. Ihr Lachen war auch auf die Entfernung hin zu hören, sie spielten, als wäre nichts geschehen. Es gab auf dieser Insel noch Leben, das so weiterging wie bisher.
Erschöpft setzte sich Mary in den Sand, lauschte dem Lachen der Kinder und dem Wasser, das sich schäumend an den Korallenriffen brach. Die winzige unbewohnte Insel, die rechterhand vor der Küste lag, war heute deutlich zu erkennen. Dort waren sie hinübergeschwommen und nackt am Strand herumgelaufen.
Sie schluckte und wendete den Kopf, schaute auf den schroffen Hang hinter sich. Maulbeer- und Brotbäume bedeckten ihn, zum Strand hin mischten sich Farne dazu. Die Blüten verschiedenster Orchideenarten setzten farbige Punkte in das dichte Buschwerk. Im Schatten der Blätter tanzten Lichtkegel der Sonnenstrahlen, die durch die Äste hindurchfielen. Bei ihrer letzten Expedition hatten sie prüfen wollen, ob es auf Tahiti einen aktiven Vulkan gab. Dabei waren sie auf einer Lichtung auf einen Wasserfall gestoßen. Eine Frau hatte Früchte gewaschen, während zwei Kinder Wasser geschöpft und es in Kokosnussschalen davongetragen hatten. Sie hatten an diesem Tag die Suche nach dem Vulkan abgebrochen und sich auf einem Felsen in die Sonne gesetzt, um dem Rauschen des herabstürzenden Wassers zuzuhören.
Nichts auf dieser Insel und den Inseln der Umgebung ist unberührt, alles erinnert an Carl. Wie soll ich hier weiterleben, wenn er geht? Ihre Schultern schmerzten, die Glieder waren schwer. Vielleicht habe ich mich angesteckt, dachte sie und verspürte Erleichterung. Sie nahm die Schüssel und sah auf dem Rückweg zur Hütte sein Blut, das sich in Schlieren über die Blätter verteilt hatte.
Tahiti, 14. Juli 1786
»Liebling, ich bin hier. Hörst du mich? Wir werden das durchstehen.«
Heiß war ihm, und sein Rücken war immer noch verkrampft. Die Schmerzen im Unterleib hatten jedoch nachgelassen. Carl drehte den Kopf und öffnete die Lider. Seine Augen brannten. Ein sicheres Zeichen seines Körpers, dass das Fieber gestiegen war. Er hatte das Zeitgefühl verloren, dem Lichteinfall nach musste es Nachmittag sein.
Ein Lächeln. Sein Herz machte einen Doppelschlag. Sie musste neben der Matte gewartet haben und hielt ihm nun die Schüssel an den Mund. Schweigend strich sie ihm die Haare aus der Stirn. Unfähig, den Löffel zu greifen, ließ er sich mit einem Früchtebrei füttern. Unfähig, sich zu erheben, ließ er sich waschen und am Ende wieder auf die Matte betten. Als sie ihm am Schluss einen Lappen auf die Stirn legte, reagierte er kaum, und die Augen fielen ihm zu.
»Bitte, bitte, bleib wach.« Ein flehentliches Flüstern. Er schlug die Augen wieder auf. Angst. In ihrer Stimme hörte er Angst.
»Carl, du musst mit mir deine Behandlung durchgehen. Schaffst du das?«
Er nickte.
»Vorhin habe ich mich gefragt, ob ich die Wickel weiterhin anlegen soll oder ob ich mit der Kälte, wie es Paracelsus behauptet, das Fieber nur verdränge, wodurch es an anderen Stellen Schaden anrichtet.«
»Nein, das ist gut so. Fahr fort damit, mir ist es angenehm.« Du beginnst, deinen Behandlungsmethoden zu misstrauen, fügte er in Gedanken hinzu, und verrätst für mich deine Grundsätze. Mache das nicht, vertraue dir und deinen Fähigkeiten. Sie reichen bis zu einem gewissen Punkt, und hinter dem beginnt die Ratlosigkeit. So ist sie, die Wissenschaft: Vieles bleibt vorerst verborgen, manches vielleicht auch auf ewig. Doch all dies hat nichts mit deinen Fähigkeiten zu tun. Gern hätte er die Hand gehoben und ihr die Strähne des Haares aus der Stirn geschoben, um dann den Bogen ihrer Wange hinabzufahren. Doch er begnügte sich damit, seinen Blick über die Konturen ihres Gesichtes gleiten zu lassen. Mir würde es nicht anders gehen. Wärest du erkrankt, und ich müsste mich darum kümmern, dich am Leben zu erhalten, wäre es nicht besser um mich bestellt. Die Angst raubt einem die Kraft in noch stärkerem Maße als das Fieber. Sie macht uns zu Jahrmarktsbadern, blind probieren wir herum, und da wir zunehmend unsere Grenzen begreifen, klammern wir uns an jede Möglichkeit.
»Du hast den ersten Fleck auf dem Rücken.«
Nichts geschah.
Sein Atem blieb ruhig.
Sein Herz schlug weiter.
Gleichmäßig.
Schlag um Schlag.
»Es tut mir leid«, presste sie heraus. »Ich will dich nicht erschrecken.« Sie nahm seine Hand und klammerte sich daran fest.
»Mein Engel, wir wissen es doch beide. Du erschreckst nicht mich, du erschrickst. Das Blut in meiner Haut gibt uns die Antwort: dass wir aufhören können, darüber nachzudenken, wie es mit meinem Leben weitergeht. Wie es mit deinem Leben weitergeht, wenn du allein hier zurückbleibst, darüber sollten wir sprechen. Lass uns die Zeit nicht mehr mit sinnlosen Behandlungen verschwenden. Ich denke, dass wir uns jetzt um dich kümmern müssen.« Er schloss die Augen und spürte ihre Hand, die seinen Arm berührte, ihn sanft rüttelte, damit er wach blieb.
»Soll ich dich zur Ader lassen? Oder schröpfen? Vielleicht purgieren? Soll ich Einläufe vornehmen? Was ist jetzt das Dringlichste?«
»Dass wir den Tatsachen ins Auge sehen.« Liebevoll hatte er sprechen und sie in seinen Armen wiegen wollen, doch seine Worte hatten hart geklungen. Unter zwei flachen Atemzügen hervorgestoßen, hatten sie Mary zurückzucken lassen. Nur ihre Fingerspitzen lagen noch auf seiner Haut. Tränen begannen, ihr Gesicht hinabzulaufen, keine von ihnen schien sie zu bemerken. Wegküssen müsste ich sie dir.
»Mary, es ist nicht nur ein Gefühl, es ist eine Gewissheit. Meine Zeit ist vorüber, lass uns über dich sprechen.«
Ihr Kopf fiel vornüber auf die Brust, sie schüttelte ihn immer wilder hin und her, und das Schluchzen ließ ihren Leib in Krämpfen zucken.
»Ich habe eine Bitte an dich. Eine Bitte, die du mir noch erfüllen musst.« Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, und er war nicht sicher, ob sie ihn gehört hatte. Doch das Schütteln des Kopfes ließ nach, und die Hand krallte sich in seinen Arm. Ein wohliger Druck, ihre Nägel in der Haut zu spüren, ein Druck, der den Schmerz in seinem Leib kurzzeitig überlagerte. Sie sah ihn an. Rote Augen, nasse Wimpern, bebende Lippen.
Hätte ich geahnt, dass der Abschied ein so grausamer Bruder des Sterbens ist, wünschte ich, ich wäre heute Nacht von dir gegangen. Leise und unbemerkt, als du schliefst. Dann wärest du erwacht und hättest es hinter dir gehabt.
***
»Wir haben etwas geschaffen, gemeinsam. Unsere Sammlung muss vollendet und dann nach England geschafft werden. Ich bitte dich, sie der Royal Society zu übergeben. Unsere Arbeit, sie ist dein Erbe.«
Die Gedanken rasten mit einer Schnelligkeit durch ihren Kopf, dass ihr schwindelte. Das Herz pumpte, und die Lungen schmerzten bei jedem Atemzug, sie schienen nicht genug Luft zu bekommen. Er sprach von ihrem Erbe. Es gab nichts zu vererben, es gab nur ein Leben, ein gemeinsames Weiterleben. Er durfte nicht vom Sterben sprechen, den Tod nicht herbeireden, nicht daran glauben. Sie beugte sich vor und schlang ihre Arme um Carl. Sie musste ihn halten, in diesem Leben halten.