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Vielleicht war es der fremde, ein wenig süßliche Geruch seiner Haut, vielleicht war es die faulige Note seines Atems, vielleicht war es die Weichheit seiner Muskeln. Als sie ihn umarmte, spürte sie, was er ihr zu sagen versuchte.

Er starb.

Er hatte recht. Es war kein trügerisches Gefühl eines Fiebernden. Es war die Gewissheit des Sterbenden, die sie in ihren Würgegriff nahm. Vor ihrem inneren Auge zog alles vorbei.

Gedanken.

Blicke.

Berührungen.

Lachen.

Küsse.

Alles, was sie nicht mehr hatten miteinander tauschen können.

Ihr gemeinsames Heim, das sie nicht mehr hatten miteinander einrichten können.

Kinder, die sie nicht hatten ins Leben bringen können, um ihnen Namen zu geben.

Länder, die sie nicht zusammen hatten bereisen können, um weitere Entdeckungen zu machen.

Sie musste ihn halten. Sie musste die Arme fester um ihn schließen. Er sollte ihre Wärme spüren, das Beben ihres Brustkorbs, den Hauch ihres Atems. Reden musste sie. Leise seinen Namen aussprechen und von ihrer Liebe erzählen, dass er ihre Stimme hören konnte. Jeden seiner Sinne wollte sie erreichen. Alles in ihm sollte wissen, dass sie bei ihm war und ihn begleitete, wenn sie ihn schon nicht im Leben halten konnte. Das Gesicht in seinem Haar verborgen, spürte sie seinen Herzschlag an ihren Rippen. Erstaunlich kraftvoll, als wollte jeder Schlag ihr sagen:

Ich bin noch da.

Ich bin noch da.

Ich bin noch da.

Und so kraftvoll, wie es schlug, so abrupt schwieg es.

Die Stille war betäubend. Sein Brustkorb hob und senkte sich nicht mehr, die Glieder erschlafften, der Mund öffnete sich einen kleinen Spalt, und ein Seufzer entwich den Lungen.

Doch war noch Wärme in ihm. Sie klammerte sich an ihn. Diese Wärme, das war das Letzte, was ihr von ihm blieb.

Teil 3 

Tahiti, 15. Juli 1786

Ob ihr Gott sie erlöst und beide zu sich genommen hatte? Owahiri hielt inne und lauschte. Er konnte keinen Atemzug vernehmen, still lagen die Körper nebeneinander. Mary hielt Carl umschlungen, sein Gesicht war zum Boden gedreht, sodass er es nicht sehen konnte. Doch ihres war ihm zugewandt, die Augen offen, der Blick starr in der Unendlichkeit verloren. Ja, der Gott, dem die Fremden huldigten, hatte sich erbarmt. Er hatte erkannt, dass diese Seelen nicht zu trennen waren.

Er hatte nie mit den beiden darüber gesprochen, aber er würde ihr Zeremoniell wählen, um sie zu bestatten. Ein schweigender Abschied, bei dem man die Toten in die Erde hinabließ oder mit Steinen bedeckte und zwei Hölzer übereinanderschlug, in Kreuzform. Einige Matrosen waren im Laufe der Jahre hier zu ihrem Gott geholt worden, die verwitterten Holzkreuze, verstreut auf der Insel, erinnerten daran.

Er wandte sich ab, um Hilfe zu holen, denn die beiden mussten aufgrund der Hitze des Tages schnell beigesetzt werden.

Unvermittelt zögerte er.

Hatte Mary gerade die Lider bewegt? Geblinzelt? Sofort beugte er sich vor. Ihre Augäpfel bewegten sich, um ihn anzuschauen. Er sah in tote Augen, die lebten. Er fröstelte.

»Mary. Hörst du mich?«

Sie nickte.

Er tastete mit der Hand nach Carls Haut. Sie war kühl. »Er ist tot, Mary.«

»Ich weiß.«

Carls Kopf bewegte sich, als sie ihren Leib fester an seinen presste und die Finger tiefer in den Stoff seiner Decke hineinbohrte. »Mein Vater hat es mir gesagt«, flüsterte sie.

Der Gott hat ihren Körper vergessen und nur ihren Verstand mitgenommen, damit sie am Schmerz nicht zerbricht. »Was hat dein Vater dir gesagt?«, fragte er.

Sie hob den Kopf und schaute nach rechts, dann nach links. Es war der Blick eines gejagten Tieres, das seine Beute sichert. »Dass die Wissenschaft fortwährend Opfer verlangt. Aber dass sie immer die zum Opfer verlangt, die einem am teuersten sind, das hat er mir nicht gesagt.«

Sie haben nur einen Gott, das ist zu wenig. Er kann nicht alles im Blick behalten, sicherlich hat er übersehen, was hier gerade geschieht.

Er kniete nieder und strich ihr über die Hand. Die Finger lockerten sich. »Komm mit mir«, sagte er und schob seinen Arm unter sie. Langsam hob er sie an, bis sie auf ihren Beinen stand. Auf ihn gestützt, verließ sie die Hütte.

Carl blieb zurück. Er lag auf dem Boden, sein Gesicht in den Sand gedreht.

Die Tage vergingen. Owahiri verließ morgens seine Hütte, um beim Versorgen der Kranken und beim Einsammeln der Leichen zu helfen.

Revanui hatte, auch wenn die Frauen wahrscheinlich gleich alt waren, Mary angenommen wie eine Tochter. Sie berichtete ihm, dass sie Mary einmal am Tag zum Fluss führte und badete. Das immer gleiche Ritual, das damit begann, dass sie einen der porösen Steine nahm und den hellen Körper schrubbte, bis die Haut rot und weich war. Anschließend führte Revanui sie aus dem Wasser, trocknete sie ab und ölte sie von Kopf bis Fuß ein. Und während sie mit Mary sprach, über die alltäglichen Dinge, auf die sie schon bald keine Reaktion mehr erwartete, richtete sie das hellbraune, schulterlange Haar und zupfte ihr die Augenbrauen. Mary rührte sich nicht, wenn Revanui ihr sagte, sie solle stillehalten, und sobald Revanui sie aufforderte, sich zu erheben, stand sie auf. Kein Wort kam über die Lippen, ihr Blick schien blind geworden zu sein. Willenlos ließ sie sich den Pareo um die Hüften und den Umhang um den Oberkörper hüllen. »Wir wollen doch deine Haut vor der Sonne schützen«, sagte Revanui jedes Mal zum Abschluss des morgendlichen Bades, bevor sie sich einhakte und mit Mary zurück zur Hütte schlenderte, um sie auf ihren angestammten Platz zu setzen. Dort saß sie noch, wenn Owahiri zurückkehrte und den Leichengeruch in der Nase und auf der Haut mitbrachte.

Tahiti, 2. September 1786

Anderthalb Monde verbrachten sie so miteinander, und als Owahiri eines Morgens aufwachte, stand Mary neben ihm. Er konnte nicht sagen, wie lange sie neben der Matte darauf gewartet hatte, dass er die Augen aufschlug.

»Wo ist er?«, fragte sie. Eine schlichte Frage, die Stimme kräftig, als hätte sie sich in den letzten Tagen ausgeruht und wäre zu Kräften gekommen.

Owahiri erhob sich und füllte Wasser in Schalen. »Du warst lange fort«, antwortete er.

»Ich weiß, und ich bin euch dankbar, dass ihr euch um mich gekümmert habt.«

»Es war Revanui, ihr gebührt dein Dank. Ich hatte auf der Insel zu tun.«

Er sah sie an. Sie war zurückgekehrt. Ihr Gott hatte entdeckt, dass er ihren Körper vergessen hatte, und sich zu dem Entschluss durchgerungen, ihm wieder Lebenswillen einzuhauchen. Auch wenn sie schmal geworden war, stand sie doch aufrecht vor ihm.

»Bring mich zu ihm. Bitte.«

An der Lichtung beim Wasserfall stieg Owahiri auf eine Anhöhe und zeigte auf einen Steinhaufen, aus dem ein Kreuz ragte. Zwei kräftigere Äste, die mit einem Band gegeneinandergebunden worden waren. Der Schatten eines Maulbeerbaumes wiegte sanft über den Steinen hin und her.

»Er mochte diesen Ort.«

»Haben eure Priester nichts dagegen, dass er hier liegt?«

»Sie haben andere Sorgen. Der Totengeist ist kaum zu besänftigen. Einen nach dem anderen holt er sich.«

Mary nickte und schritt auf das Grab zu.

Owahiri ließ sie alleine.

***

Ein Steinhaufen war ein Steinhaufen. Sich vorzustellen, dass er etwas mit Carl zu tun hatte, gelang Mary nicht. Eine Weile saß sie neben dem Hügel, zählte die Steine, sah den flatternden Schatten zu und spürte das Gras, das, vom Wind gebogen, über die Haut ihrer Waden strich. Nichts in ihrem Körper reagierte auf den Anblick der schwarzgrauen Steine und das anrührend schief gebundene Kreuz.