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Dass du ein Kreuz auf deinem Grab haben würdest, das hättest du dir nicht träumen lassen, dachte sie, als sie sich erhob und zum Strand hinunterlief.

Der Anblick der Hütte ließ Mary schlucken. Die Zunge lag trocken und pelzig in ihrem Mund. Zuerst war es ein Zupfen, ein leises Flattern im Leib, das mit jedem Schritt zunahm, und als sie vor der Hütte stand, war es zu einem reißenden Ziehen angeschwollen. Es krallte sich in den Magen, presste auf die Lunge und machte ihr Herz hart wie eine geballte Faust.

Die Decke lag auf der Matte, das zerschnittene Hemd auf dem Boden. Und auf der Kiste, die Carl als Tisch genutzt hatte, stapelten sich verschiedene Schriften. Dicht beschriebene Blätter. Es war ihre Handschrift, doch der Inhalt der Zeilen war ihrer beider Werk. Niemand hatte die Hütte seitdem betreten, alles war noch an seinem Platz, so wie sie es zurückgelassen hatten. Sicher fürchteten die Inselbewohner den Totengeist, der hier bereits einmal zugeschlagen hatte.

Mary krümmte sich. Etwas in ihr brach auseinander und zerfiel. Die Hände, die sie eben noch gegen den Leib gepresst hatte, fuhren vor. Packten das erste Papier und rissen es durch. Aus einem Teil wurden zwei, aus zweien wurden vier. Das Geräusch des Reißens brachte Erleichterung. Sie ließ die Papierfetzen fallen, fasste sofort nach dem nächsten Blatt und spürte, dass mit jedem Riss, mit jedem Schnipsel, der zu Boden fiel, mehr Luft in ihre Lunge strömte. Immer schneller riss und zerknüllte sie, was sie zu packen bekam. Eines der Bücher. Die Seiten regneten nieder, doch der Rücken des Einbandes wollte sich nicht von den Buchdeckeln trennen. Sie warf ihn gegen das Blätterdach. Ihr Arm fuhr über die Kiste, wischte die restlichen Schriften und die Tasche mit den Instrumenten zu Boden. Die Schröpfkugeln brachen, als sie diese mit den bloßen Händen zerdrückte. Blut und Glas vermischten sich, als die Splitter sich in ihre Haut gruben. Mary ließ die Scherben zu Boden fallen.

Ihr Blick wurde unscharf. Kisten, gefüllt mit Gläsern, die Gläser gefüllt mit Pflanzensamen, Erd- und Gesteinsproben. Bücher, Zeichnungen und gepresste Blüten. Larven, Käfer, Schmetterlinge. Federn, Muscheln, Werkzeuge und Waffen. Sammlungsstücke aller Art und Geschenke, die sie erhalten hatten. Zeugnisse ihres Schaffens. Tote Zeugnisse ihres Schaffens. Alles Tand, wert- und bedeutungsloser Tand. Nichts davon lebte, konnte von den Stunden erzählen, nichts davon konnte sie in die Arme schließen, nichts davon konnte sie in Wärme hüllen, die den Schmerz erträglich machte.

Sie zerrte die vorderste der Kisten aus der Hütte durch den Sand hinab zum Wasser. Die Muskeln der schlaff gewordenen Arme traten hervor, und Kräfte erwuchsen in ihr, die sie berauschten. Sie zog und zerrte, bis das Wasser ihr über die Knie reichte, sich die Wellen über dem Holz schlossen und die Konturen der Kiste verschwammen.

Die zweite Kiste war leichter und schneller zum Wasser gezogen. Ihr Atem ging stoßweise. Schneller, sie musste schneller machen und ihr Werk vollenden, um sich Ruhe zu verschaffen. Sie musste den Schmerz im Meer versenken.

Nichts hatte sie gehört außer ihrem Atem, nichts hatte sie gesehen außer den Kisten und dem Wasser. Plötzlich wurde sie gepackt, hart am Arm gepackt und mit voller Wucht in den Sand geschleudert. Zwei Hände fassten nach der Kiste, an der erste Wellen züngelten, und schoben sie auf den Strand zurück. Mary schrie auf, flehte, dass er sie dort lassen solle.

Owahiri richtete sich auf, sein Blick war bedrohlich und ließ sie auf Knien im Sand verharren. Er lief ins Wasser, dem dunklen Fleck entgegen, der sich immer weiter vom Land entfernte. Als ihm das Wasser bis zu den Schultern stand, bückte er sich, und sein Kopf verschwand zwischen den Wellen. Einen Wimpernschlag später richtete er sich auf und stemmte die Kiste in die Höhe. Wasser troff auf ihn herab. Das Holz war schwarz vor Nässe und glänzte im Licht.

Mary schnappte nach Luft. Sie hatte den Schmerz im Wasser versenkt, Owahiri holte ihn wieder heraus und trug ihn vor sich her. Direkt auf sie zu. Vor ihr ließ er die Kiste fallen, ließ die Schlösser aufschnappen und hob jedes Teil aus der Kiste heraus, wischte es mit den Händen ab und legte es behutsam in den Sand, dass die Sonne es trocknen konnte.

Ihr Schreien war verebbt, und nicht mehr als ein Schluchzen ab und an war geblieben. Das Rauschen des Windes in den Palmenblättern, ein sanftes Plätschern der Wellen. In der Ferne rief ein Vogel.

»Was tust du, Mary? Du zerstörst alles.«

Er saß vor ihr, sein rechter Fuß verschwand im Sand, feine weiße Körner rieselten die dunkle Haut hinab.

»Steine und Pflanzen, sieh hin, das ist alles kalt und tot. Was soll ich noch damit?«

»Du weißt, dass es nicht so ist.«

Er ergriff einen Umhang. Die gelben und roten Federn waren von der Nässe verklebt. Carls Augen haben geblitzt wie blankpolierte Sterne, als er ihn in den Händen hielt.

Eine Holzmaske tauchte vor ihren Augen auf. Die Holzmaske hat er vor sein Gesicht gehalten und mich damit gejagt. Geheult hat er wie ein Wolf, bis wir stehen bleiben und uns die Seiten halten mussten, die vor Lachen schmerzten.

Owahiri legte die Maske beiseite und nahm ein geflochtenes Netz heraus. Darin hat er Früchte von einem Spaziergang mitgebracht. Er hat sie aufgeschnitten, und gemeinsam haben wir sie gegessen.

Mary nahm eines der Vogeleier auf, wischte den Sand ab und ließ die Finger darübergleiten. Dieses Ei hat er selbst ausgeblasen. Seine Finger haben die Schale berührt, sie gehalten.

»Ich halte das nicht aus, Owahiri.«

»Ihr habt das zusammengetragen. Auch wenn du es wegwirfst, bleibt es bei dir.«

»Er hat mich gebeten, alles nach England zu schaffen.«

»Ja, du sollst allen Menschen davon erzählen. Ich weiß von Omai, dass die Menschen in eurem Land gern von Tahiti erzählt bekommen. Doch du hörst nur, was jedes Teil dir erzählt. Du hörst nur eure Geschichte heraus.«

Mary ergriff eines der Gläser, öffnete es und schüttete die Samen heraus. Sie waren trocken geblieben.

»Es war sein letzter Wille. Nimm ihn an. Du hast eine Aufgabe.«

Owahiri half Mary auf die Beine. Gemeinsam liefen sie den Strand entlang, der Hütte, die sie mit Carl bewohnt hatte, entgegen.

Ein Knoten bildete sich in ihrer Kehle. Sie blieb stehen und sah, dass Owahiri zwei Matten holte. Er breitete sie im Schatten aus. »Es ist heiß geworden, lass uns ein wenig ausruhen«, sagte er. Er verschwand im Dickicht hinter der Hütte und kam mit zwei geöffneten Kokosnüssen zurück.

Mary nahm einen Schluck. Süße breitete sich in ihrem Mund aus, kühl rann ihr die Flüssigkeit die Kehle hinab. Der Knoten löste sich.

Owahiri streckte sich auf der Matte aus und schloss die Augen.

Es war sein letzter Wille. Nimm ihn an.

Der Wind bewegte sanft die Blätter des Baumes. Ein leises Rauschen, das sich mit dem immerwährenden Geräusch der Brandung verband.

Im Sand vor ihnen zwei dunkle Flecken, zwei nasse Holzkisten und darum herum verstreute Erinnerungen.

Du hast eine Aufgabe, Mary.

Sie nahm einen weiteren Schluck des Kokosnusssaftes und wendete den Kopf. Die Hütte. Ohne Carl und doch mit Carl erfüllt.

Es fehlt noch so vieles, um die Arbeiten abzuschließen, doch du hast Zeit. Niemand weiß, wann das nächste Schiff kommt, auch wenn Carl darum gebeten hat, abgeholt zu werden. Also, was fehlt, um die Arbeit abzuschließen?, fragte sie sich und wusste sofort um die Antwort. Wir müssen … ich müsste die restlichen Inseln aufsuchen. Einen Abgleich der Vegetation erstellen.

Es war ein Gedanke, ein Plan, ein Hinweis darauf, dass sich ihr Geist fügte, dass er wieder seine Tätigkeit aufnahm. Es gab keinen Grund mehr, sich Carls letztem Wunsch zu entziehen.