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Der Rücken wurde ihr schwer. Sie legte sich auf die Matte, spürte die Wärme und roch den Duft der Blüten.

»Owahiri, könnte ich in zwei Tagen ein Boot bekommen, um nach Raiatea überzusetzen?«

»Natürlich. Wie lange werden wir dort bleiben?«

»Du willst mitkommen?«

»Natürlich.«

»Es könnte einen, vielleicht zwei Monde dauern.«

»Gut. Sehr gut.«

Atlantik, 4. April 1787

Sie hatte ihm nicht gefehlt.

Nur das Schreiben, das hatte ihm gefehlt.

Irgendwann hatte er bemerkt, dass er das Kratzen der Feder vermisste, wenn sie über das Papier strich, und den Geruch der Tinte, sobald er das Fass öffnete. Aber es hatte nichts mehr gegeben, was noch zu beschreiben, zu beschriften gewesen wäre, nichts, was noch hätte gezählt, vermessen oder gewogen werden müssen. Geblieben war ihm die stupide Arbeit an Deck. Wiewohl er nicht wusste, worüber er schreiben sollte, hatte er eines Abends Feder, Tintenfass und vier Blätter aus der Kiste geholt. Die Feder, das Fass und den Rest der Blätter, die Mary ihm nach Nats Tod neben die Koje gestellt hatte. Er hatte sich in die Hängematte gehockt, um ungestört zu sein, und hatte begonnen, Reisenotizen anzufertigen. Inzwischen schrieb er regelmäßig in seiner Hängematte, jeder wusste es, und niemand scherte sich darum. Die Narrenfreiheit hatten sie ihm gelassen, wenigstens die war ihm geblieben.

Vorsichtig zog er das Papier zwischen seiner Kleidung hervor und rollte das Tintenfass aus der Wintermütze, in die er es zum Schutz gehüllt hatte. Das Papier war durch die Lagerung in den Stofflagen zerknittert. Seth fuhr über eine tiefe Falte, die sich unter dem Druck seines Fingers glättete und danach sofort wieder erhob. Er wendete das Blatt, Vorder- als auch Rückseite waren dicht beschrieben. Kurz überflog er die Zeilen: Keiner hat mehr Lust, seine Arbeit zu machen. Seit wir Tahiti verlassen haben, sehen viele so aus, als wären sie seekrank. Ich glaube aber, dass sie verliebt sind und dass sie traurig sind, weil sie ihre Liebchen zurücklassen mussten. Ich sehe auch so aus, als wäre ich seekrank, aber ich bin nicht verliebt. Ich bin immer noch wütend. Auf diese --------.

Es war ihm untersagt, Aufzeichnungen zu machen, und er musste damit rechnen, dass man ihm am Ende der Reise die Blätter abnahm. Kurz hatte er überlegt, als er diese ersten Zeilen zu Papier gebracht hatte. Sie waren gut geschrieben. Nur das eine Wort, das hatte er vorsichtshalber entfernt. Es wusste auch so jeder, dass Mary eine Lügnerin war.

Weitere Berichte folgten. Von den menschenfressenden Maori, die sie aber nur aus der Ferne gesehen hatten. Aus Batavia, wo sie nur kurz Halt gemacht hatten, weil der Kapitän befürchtete, man könnte sich, so wie es Cook und seiner Mannschaft ergangen war, in der Enge des überfüllten Hafens Krankheiten einfangen. Die Beschreibung der Tafelberge hatte er schon in winzigen Buchstaben in die rechte untere Ecke des Papiers geschrieben, so eng, dass ihm die Tinte verwischt war. Auch die drei anderen Blätter sahen nicht anders aus.

Noch einmal ging er den Inhalt seiner Seekiste durch: die Feder, ein halbvolles Tintenfass und kein Papier. Er musste sich welches besorgen. Aber bei wem und wo? Wütend packte er seine Mütze, um das Tintenfass wieder hineinzulegen, als er eine weiße Ecke unter dem zu klein gewordenen Hemd hervorlugen sah. Marys Brief, fuhr es ihm durch den Kopf. Er nahm ihn in die Hand. Es war ein großer, schwerer Umschlag. Vorne sein Name, hinten ein Wachssiegel. Er brach es auf und nahm den Inhalt heraus: ein Briefbogen und ein weiterer Briefumschlag, ebenfalls versiegelt und an Landon Reed in Plymouth adressiert.

Seth hockte sich auf seine Kiste, legte den Briefbogen und den Brief an Landon Reed in seinen Schoß und kratzte das Siegel vom Papier, bevor er den mit seinem Namen versehenen Umschlag aufzutrennen begann. Es sah zwar merkwürdig aus, aber er hatte eine Seite Papier gewonnen. Zufrieden lächelte er. Dann nahm er das einzelne Blatt aus seinem Schoß und faltete es auseinander. Es war ein Brief, an ihn gerichtet, der mit den Worten »Lieber Seth« begann. Dicht beschrieben war er, sodass hier kein Platz für seine eigenen Notizen blieb, doch die Rückseite war leer. Innerlich jubilierte Seth. Drei Seiten, er hatte drei Seiten Papier gewonnen: sowohl die Vorder- und die Rückseite des Umschlags als auch die Rückseite des Briefes.

Kurz nahm er das Schreiben an Landon Reed in die Höhe und tastete es ab. Hierin befanden sich mindestens zwei Blätter, so sehr wölbte sich der Umschlag. Kopfschüttelnd stand er auf, legte ihn unangerührt in die Kiste und griff nach Feder und Tintenfass. Wieder setzte er sich auf seine Seekiste, kreuzte die Beine und strich das Papier glatt. Was soll ich notieren?, überlegte er und fühlte sich feierlich, als die Tinte feucht auf der Feder glänzte. Wir haben vor wenigen Tagen das Kap der guten Hoffnung verlassen. Die See ist ruhig. Das war es noch nicht, nein, das konnte er besser formulieren. Doch das Ziehen in seinem Bauch lenkte ihn ab. Jedes Mal, wenn er an zu Hause dachte, wurde ihm flau. Es gab kein Zuhause mehr, und er wusste nicht, was geschehen würde, wenn sie in England anlegten. Würde er in ein Waisenheim kommen? Würde die Royal Navy oder das Navy Board Verwendung für ihn haben? Beide Gedanken verstärkten den Druck im Bauch. Tinte tropfte von der Feder auf das Holz der Kiste, mit den Fingern wischte er sie in die Breite. Das Papier war immer noch weiß und unberührt. Nur an einigen Stellen, an denen Marys Tinte sich durchgedrückt hatte, waren schwarze Punkte zu erkennen, die sich verteilten wie Fliegendreck.

Was hat sie wohl geschrieben? Egal, dachte er im selben Moment. Es ist mir gleich, was sie geschrieben hat! Der tintenverschmierte Daumen und Zeigefinger fuhren vor, packten den Brief und drehten ihn um.

Lieber Seth,

ein Brief wird mir nicht die Möglichkeit geben, Dir ausführlich zu erläutern, was mich zu der Täuschung, die ich euch zugemutet habe, getrieben hat. Vielleicht verstehst Du es ein wenig, wenn ich es mit der Schreiberei vergleiche. Wie ich weiß, magst Du das Schreiben. Versuche Dir vorzustellen, man würde Dir das Schreiben verbieten. Für immer. Würdest Du nicht auch versuchen, wieder in den Besitz einer Feder und ein wenig Tinte zu kommen, um die Worte, die durch Deinen Kopf gehen, festzuhalten? So musst Du Dir meine Lage vorstellen. Ich liebe meine Arbeit, und ich durfte sie nicht ausüben. Und so habe ich jeden Preis in Kauf genommen, um mein Ziel zu erreichen. Ich habe mein Ziel erreicht, zumindest für eine Weile, aber ich habe erst, als nichts mehr rückgängig zu machen war, einen Gedanken daran verschwendet, dass ich damit viele Menschen in meinem Umfeld vor den Kopf gestoßen habe. Zu Hause habe ich meine Lieben im Ungewissen zurückgelassen. Auf dem Schiff habe ich die Menschen, die sich blind auf mich verlassen haben, von Anfang an belogen. Ich habe viel Schuld auf mich geladen.

Seth, Du kannst kaum ermessen, wie leid mir all dies tut, aber ich befürchte, dass ich immer wieder so handeln würde. Ich weiß nicht, ob Du meinem Versuch einer Erklärung folgen konntest oder möchtest, aber ich bitte Dich, mir zu erlauben, Dir ein Schreiben mitzugeben. Es ist an Landon Reed gerichtet, der ein Handelskontor in Plymouth betreibt. Da der Brief viele persönliche Gedanken enthält, habe ich ihn versiegelt. Bitte versteh das nicht falsch. Wichtig für Dich ist, dass ich ihn frage, ob er Dich in seinem Kontor zur Lehre aufnehmen kann. Ich habe Deine Leidenschaft für die Schreiberei, aber auch Deine Geduld, Deine Ausdauer, Deine Genauigkeit beschrieben und betont, dass Du ein sehr aufgeweckter junger Mann bist. Ich nehme an, die Navy wird nach Deiner Heimkehr für Dich sorgen, aber ob das in Deinem Sinne ist, kann ich nicht beurteilen. Eventuell nimmt Landon Reed dich in die Lehre, dann hättest Du eine Wahl.