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Lieber Seth, ich wünsche Dir aufrichtig das Allerbeste für Deine Zukunft und danke Dir von Herzen für die gemeinsamen Stunden, die wir miteinander verbracht haben. Nicht eine davon möchte ich missen.

Deine Mary Linley

Seths Kinn und Lippen zitterten. Langsam stand er auf und legte den Brief wie auch die Schreibutensilien in die Kiste zurück. Der Druck in seinem Bauch war unerträglich geworden.

Tahiti, 16. Juni 1787

Konzentriert zog sie den Stock durch den weißen Sand, mit dem der Boden der Hütte ausgestreut war. In wackeligen Linien fügte sich Letter an Letter, bis der Name T-U-P-A-I-A zu lesen war. »Ist das richtig so?«, fragte Revanui und schaute Mary an.

»Ja, so schreibt man den Namen deines Sohnes in unserer Sprache.«

»Schön sieht das aus.«

»Es ist auch ein schöner Name.«

Ein versonnenes Lächeln ging über Revanuis Gesicht.

Mary sah sich um. Owahiris Haus war großzügig geschnitten, es maß knapp vierzig Fuß an jeder Seite. Die Familie hatte Platz, mehr Platz, als ihr lieb war. Seit dem Fieber fehlten drei Mitglieder. Owahiris Mutter und zwei von Revanuis Schwestern waren der Krankheit erlegen. Sie hatten mit zu den letzten Opfern gehört, die sich das Fieber geholt hatte, als niemand mehr daran dachte, dass es noch einmal aufflackern könnte. Die leeren Schlafstellen, Revanuis verweinte Augen und Owahiris dumpfes Schweigen – der Schmerz hatte für Wochen eine Schneise in die Familie geschlagen, die unüberbrückbar schien. Aber sie haben noch ihren Sohn, dachte Mary. Jeden Tag können sie ihn in den Arm nehmen und den Geruch seiner sonnengewärmten Haut und seines salzverkrusteten Haares riechen. Sie können erleben, wie er heranwächst.

Mit dem Stock zog Revanui die Linien der Buchstaben nach. »Vielleicht sollte ich mir diese Zeichen eintätowieren. Was denkst du?«

Mary nickte nur. Ihr Herz zog sich zusammen. Dass sie nach ihrer Genesung nicht in die Hütte am Strand zurückkehrte, war außer Frage gestanden. Die Familie hatte sie aufgenommen, in ihre Mitte, und doch war sie eine Fremde geblieben. Owahiri, revanui, Tupaia – sie hatten einander. Und sosehr Mary den Gedanken daran mied, jede einsetzende Blutung führte es ihr vor Augen: Sie hatte kein Kind von Carl empfangen, Monat um Monat wurde das Gefühl der Leere in ihr erneut aufgerissen und drang aus ihr heraus.

Flugs wandte sie den Kopf ab und hielt das Gesicht in den Wind. Die Schmalseiten des Hauses waren offen und ermöglichten einen Ausblick, der überwältigend war. Gen Norden konnte man den Strand einsehen und die türkisfarbene Lagune. Im Süden lag das Viapoopoo-Tal, in der Entfernung erhob sich der Orohena mit seinen Schluchten und grob aufragenden Felsen.

Das Schlimmste waren die Nächte, denn in ihren Träumen tauchten sie alle wieder auf. Carl, William, Henriette. Auch der Vater war ihr erschienen, und selbst von Landon Reed und James Canaughy hatte sie geträumt. Immer wieder ähnelte sich die Szene: Die Lebenden und die Toten saßen beisammen. In Plymouth, im Garten hinter dem Haus, neben dem wilden Wein. Der Tisch war gedeckt, nur ein Platz blieb frei, und gemeinsam warteten sie darauf, dass Mary zurückkam. Mehrfach war sie aus diesem Traum aufgeschreckt, auch in dieser Nacht.

Die Sonne stand im Zenit, als sie sich erschöpft erhob und zu ihrer Matte hinüberging. Eine kleine Mittagsruhe würde ihr guttun. Tagsüber blieb ihr Schlaf seltsam traumfrei. Ihr Blick wanderte am Kap Venus entlang über das Riff hinweg.

Das Schiff war noch weit entfernt. Es würde dauern, bis es die Enge in die Bucht hinein passieren würde.

Sie legte sich nieder, schloss die Augen und schlug sie wieder auf.

Ein Schiff?

Ein Schiff!

Am Horizont war ein Schiff zu erkennen!

Ein Dreimaster mit Kurs auf die Insel.

Mary sprang auf und lief vor die Hütte, um besser sehen zu können. Egal, woher die Mannschaft kommt, sie muss mich mitnehmen. Selbst wenn sie mich in Batavia oder am Kap der guten Hoffnung absetzen, habe ich von dort immer noch mehr Chancen weiterzureisen.

Ein ums andere Mal hatte sie den Plan im Kopf durchgespielt: Sobald ein Schiff auftauchen würde, musste sie die Arbeiten abbrechen und alles in Kisten verstauen. Sie wusste, es würde noch eine Weile dauern, bis die Mannschaft den Strand erreichte. Ihr blieb genug Zeit, ein Bad zu nehmen, das Haar zu ölen und mit einem Stab im Nacken zusammenzustecken, den beigen, bodenlangen Rock anzulegen und das Schultertuch über das verbliebene, von ihr geschonte Hemd zu werfen. Rock und Tuch hatte sie, nachdem die Reiseausstattung zerschlissen war, in Anlehnung an die englische Mode aus dem Stoff der Tahitianer für diesen Augenblick, ihre Abfahrt, selbst gefertigt.

Noch einmal blickte sie zum Horizont.

Ihr blieb genug Zeit, einen kultivierten Eindruck zu erwecken.

Als ihr Fuß die Planke berührte, wich die Besatzung der Challenge zurück. Schweigend rückte die Meute zusammen und nahm Mary von Kopf bis Fuß in Augenschein. Gut fühlte sie sich, und ihr Auftreten war ruhig und sicher. Ihr Blick streifte die Männer, und sie senkten die Köpfe oder sahen auf das Wasser hinaus.

Die alten Geschichten, dass Frauen an Bord das Verderben mit sich bringen, sind lebendig und sicher im Vorfeld tüchtig beschworen worden, dachte Mary und musterte Kapitän Fairbanks, der ihr den Arm reichte. Ohne Frage, er ist ein mutiger Mann. Es liegt auf der Hand, dass bei der kleinsten Begebenheit die Mannschaft aufbegehren und mir, der Frau an Bord, die Schuld an allen widrigen Vorkommnissen zuweisen wird. Flaute, raue See, verdorbenes Essen – alles werden sie mir zum Vorwurf machen. Und Fairbanks wird die Verantwortung tragen und seine Männer zwingen müssen, sich dem Auftrag, mich nach England zu bringen, zu beugen.

Die Seesoldaten trugen ihre Musketen geschultert. Sicherlich sollten sie die Mannschaft in Schach halten, bis Mary an Bord gekommen und ihr Gepäck verladen worden war.

Eine Gänsehaut lief ihr den Rücken herab.

Es war still, zu still.

Kapitän Fairbanks führte sie auf das Achterdeck, und kaum waren sie außer Hörweite der Mannschaft, sagte er: »Ihr werdet verstehen, dass ich darum bitten muss, dass Ihr Euch in erster Linie in der Kajüte und in der Offiziersmesse aufhaltet. Das Deck betretet Ihr vorerst nicht ohne Begleitung eines Seesoldaten. Und wann diese Vorsichtsmaßnahme endet, das werde ich entscheiden.«

Mary nickte. Sie schaute aus dem Fenster. Die Palmen winkten im Wind.

Plymouth, 7. September 1787

Leise läuteten die Türglocken, als Landon das Kontor betrat. Kurz nickend eilte er am Pult des Vorstehers vorbei, der den Kopf hob und ihm einen Brief entgegenhielt: »Entschuldigt, Mr. Reed, das hier wurde für Euch abgegeben.«

Er warf einen Blick auf die Schrift und verzögerte den Schritt. Die Bögen und die Linienführung, sie erschienen ihm vertraut. Er wendete das Kuvert. »Mary Linley« stand dort als Absender.

»Wer hat diesen Brief abgegeben?«, rief er durch das Kontor und hastete zum Pult des Vorstehers zurück.

»Ein Junge. Er wollte Euch sprechen, aber ich habe ihm erklärt, dass er wiederkommen kann, und wenn Ihr ihn dann zu sprechen wünscht …«

»Wann war der Junge da?«

»Das ist noch nicht lange her. Er hat noch eine Weile vor dem Kontor herumgelungert. Knapp fünf Fuß hoch, blondes Haar, Sommersprossen.«

Landon riss die Tür auf und sah die Straße hinab. Reisedroschken, Postkutschen, fliegende Händler und Passanten drängten sich hier aneinander vorbei. Dennoch erblickte er sofort einen Blondschopf, der nicht weit entfernt auf einer Mauer saß, die Beine baumeln ließ und dem Treiben zusah. Zwei Frauen hatten seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, nur kurz schaute er zum Kontor herüber. Als ihre Blicke sich trafen, riss er die Augen auf, sprang von der Mauer und zog seine Jacke zurecht. Landon winkte ihm zu.