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»Landon Reed«, sagte er, als der Junge vor ihm stand.

»Seth Bennetter.« Sein Oberkörper deutete eine Verbeugung an. Wortlos drehte Landon sich um und betrat das Kontor.

Er hatte Tee servieren lassen und den Brief ungeöffnet auf den Tisch vor sich gelegt. Der Junge saß auf der äußeren Kante des Stuhles vor seinem Tisch und hielt seine Mütze in den Händen. Unentwegt kneteten die Finger den Stoff. Der Blick der auffällig blauen Augen huschte unruhig durch den Raum, zu ihm zurück, dann wieder auf den Brief, um erneut ins Zimmer zu entschwinden.

»Woher hast du diesen Brief?«

Der Junge zuckte zusammen.

»Den habe ich von Miss Linley. Wir waren gemeinsam auf der Sailing Queen

Auch wenn William Middleton von nichts anderem gesprochen hatte, auch wenn Landon unzählige Male den Gedanken durchgespielt und ihn irgendwann für möglich gehalten hatte, traf ihn die schlichte Aussage wie ein Faustschlag. Er räusperte sich. »So, Miss Linley«, er zögerte und suchte die richtigen Worte, »Miss Linley ist also mit euch gereist. Das ist ja schön, wenn eine Frau mit an Bord eines Schiffes ist, oder?«

Das Gesicht des Jungen blieb ausdruckslos. »Ich weiß nicht«, murmelte er.

»Warum? Was meinst du?«

»Naja, sie war, naja, sie war erst ein Mann. In Tahiti haben es die Wilden bemerkt.«

»Dass sie eine Frau ist?«

Ein Nicken.

Landon beschloss, den Jungen nicht weiter mit seinen Fragen zu bedrängen. Er öffnete den Brief. William Middleton, ich verneige mich vor dir, alter Mann, dachte er, du kennst Mary gut. Wirklich gut.

Er faltete das Papier auseinander. Ein zweiter, kleinerer Umschlag fiel heraus, der an Henriette Fincher adressiert war. Wenn der Junge die Geschichte kennt, kennt sie auch die gesamte Besatzung der Sailing Queen. Sie wird schneller durch die Salons gehen als eine Pockenepidemie durch die Stadt. Ich muss Henriette und William informieren. Er seufzte, strich das Papier glatt und erkannte die feine, steilgeschwungene Handschrift, die immer wieder in den Schriften der Wunderkammer auftauchte.

Lieber Landon,

dieses armselige Papier wird nicht ausreichen, das Schuldgefühl, das ich Dir gegenüber mit mir herumtrage, in Worte zu fassen. Ich habe eine Ahnung, was ich Dir angetan habe, als ich heimlich die Stadt verließ. Doch ich musste diesen Schritt gehen, um meiner Berufung zu folgen. Tatsächlich ist es ist mir gelungen, wissenschaftlich zu arbeiten, mich durchzusetzen und für meine Leistung die entsprechende Anerkennung zu bekommen.

Es würde mich glücklich machen, Dir auch nur den Hauch einer Ahnung vermitteln zu können, welche Verzweiflung mich damals bewogen hat fortzugehen. Solltest Du mir nicht verzeihen können, so kann ich das verstehen, dennoch möchte ich Dich bitten, Dir kurz die Zeit zu nehmen und den Brief bis zum Ende durchzulesen. Denn ich habe, auch wenn es unverfroren und vielleicht ein Stück weit anmaßend ist, eine Bitte an Dich.

Du hast diesen Brief – so hoffe ich – von Seth Bennetter erhalten, der als Schiffsjunge an Bord der Sailing Queen war. Er ist aufgeweckt und wissbegierig, vernarrt in das Schreiben, ein Talent im Rechnen und hat mir bei meinen Arbeiten geholfen. Ihn zeichnen Geduld und Akribie aus, und er ist ein Junge, der mit seinem Intellekt und seiner Gutherzigkeit sicherlich perfekt als Lehrling in Dein Kontor passen würde. Er hat ein schweres Schicksal erlitten: Auf der Reise verlor er Vater und Bruder. Seine Mutter verschied bereits vor der Abreise, und andere Verwandte sind ihm nicht bekannt. Auch wenn eine Laufbahn in der Seefahrt für ihn sicherlich einzurichten ist, vermute ich, dass dies nicht seinem Wunsch entspricht. Wenn Du Dir vorstellen kannst, den Jungen bei Dir in Lohn und Brot zu nehmen, dann würdest Du nicht nur mir ein großes Glück bereiten, sondern sicherlich auch ihm.

Davon ausgehend, dass ich irgendwann die Heimat wieder erreiche, und darauf hoffend, dass Du dann noch mit mir sprichst, verbleibe ich mit dem größten Dank für Deine Geduld, mit der Du meinen Ausführungen bis hierher gefolgt bist,

Deine Mary

PS: Würdest Du den Brief an Henriette weiterleiten oder Seth bitten, ihn vorbeizubringen?

Seth. Seinen Namen hatte der Kleine genannt, doch er war ihm bereits wieder entfallen. Seit er den Brief geöffnet hatte, hatte sich der Junge nicht mehr bewegt, den Tee nicht angerührt und den Blick nicht von seinem Gesicht genommen.

Landon wusste nicht, ob ihm zum Lachen oder zum Fluchen zumute war. Er wusste nicht, ob er Marys Bitte als unangemessen oder schlichtweg als ungewöhnlich, aber damit typisch für sie beurteilen sollte. Nochmals blickte er auf den Jungen und seufzte.

Tahiti, 9. September 1787

Owahiri nahm die Kokosnuss, die mit Wasser gefüllt war, und spülte seine Hände ab. Er reichte die Schale an seinen Bruder weiter, der sich ebenfalls die Hände wusch, und erst dann begannen sie, schweigend zu essen. Gebackenen Fisch mit Bananen und Schweinefleisch hatten sie sich zubereitet, ein Gericht, das beide mochten, doch heute stocherten sie lustlos darin herum. Irgendwann schlugen sie die Bananenblätter über den Resten zusammen, schoben sie beiseite und wuschen sich erneut die Hände. Noch immer hatten sie kein Wort gesprochen, es gab nichts zu sagen.

Owahiri streckte sich auf seiner Matte aus, verschränkte die Arme im Nacken und starrte in den Himmel, der sich tiefblau mit wenigen Wolken, die leicht zerfaserten, über ihn spannte. Die Kinder spielten, und der Wind zerriss ihr Gelächter. Trotz der Müdigkeit kreisten die Gedanken in seinem Kopf und ließen ihn keine Ruhe finden.

Der Abschied von Mary lag bald drei Monde zurück und setzte ihm noch immer zu. So wie ihm jeder Abschied zusetzte. Während die meisten Bewohner der Insel es begrüßten, wieder unter sich zu sein, blieb bei ihm ein schaler Nachgeschmack zurück. Auch wenn die Fremden längst außer Sichtweite waren, war immer etwas von ihnen zurückgeblieben. Die gewölbten Leiber der Frauen, denen Kinder mit hellen Augen entschlüpften, legten nach jeder Abfahrt beredtes Zeugnis davon ab.

Auch nach diesem Besuch war erneut Streit um die Mitbringsel entstanden. Erst gestern war Tupaia mit einem Schuh nach Hause gekommen, wie ihn die Fremden trugen. Immer wieder hatte der Junge seinen Fuß hineingeschoben und versucht, damit zu laufen. Als seine Knie vom Hinfallen blutig geschlagen waren, hatte Revanui ihm den Schuh weggenommen. Löcherig war er gewesen und hatte so erbärmlich gestunken, dass sie ihn wutentbrannt ins Feuer geworfen hatte. Tupaia hatte geschrien, seine kleinen Hände zu Fäusten geballt und versucht, seine Mutter zu schlagen. Owahiri wurde flau, als er das Bild vor seinem geistigen Auge noch einmal sah. Die Wut in den Augen des Kleinen hatte ihn zutiefst erschüttert.

Inzwischen sprach nicht nur Revanui davon, dass die Fremden ihr Untergang werden würden.

Ein unvorstellbarer Gedanke.

Inzwischen hatte auch er bemerkt, dass zunehmende Missgunst die Männer und Frauen seines Volkes umtrieb. Sicherlich würden die Gemüter sich beruhigen, die Mitbringsel würden irgendwann ihren Reiz verlieren und im Buschwerk landen. Auch die Kinder mit den hellen Augen würden heranwachsen wie alle anderen Kinder der Insel auch.

Ihn beunruhigte vielmehr der Gedanke daran, dass Mary und Carl Spuren hinterlassen hatten. Sichtbare Spuren wie ein mit Korallen bedecktes Steingrab und eine halb verfallene Hütte am Strand, die inzwischen von den Kindern zum Spielen genutzt wurde. Doch entscheidend waren die unsichtbaren Spuren, die sie in ihm zurückgelassen hatten. Die Leere, die er fühlte, wenn er an die kommenden Tage dachte, machte ihn ruhelos. Keine Fragen mehr, keine Wanderungen durch unwegsame Lichtungen, keine Bootstouren auf die Inseln der Umgebung. Kein Austausch mehr über die unterschiedlichen Welten, aus denen sie kamen, über den Bootsbau, die Behandlung von Krankheiten und die Zubereitung von Speisen. Nirgends mehr würde er auf Mary treffen, die, ins Malen oder Schreiben vertieft, sein Kommen nicht bemerkte und aufschrak, sobald er neben ihr Platz nahm. Jeder Tag war anders, jeder Tag war anregend gewesen, und jetzt blieb ihm nichts als der Alltag.