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Irgendwann verließ Henriette ihren Posten und kam auf sie zu. Redlich bemühte sie sich um einen sachlichen Tonfall, aber Mary sah die Flecken. Sah die roten Inseln, die sich auf der weißen Haut am Hals der Tante abzeichneten, während diese sie aufforderte, noch Möbelstücke, die ihr wichtig waren, auszusuchen. Sie schwieg und zählte dreizehn Flecken, bis Henriette aufgab und sich zurückzog.

Mary wandte den Kopf ab. Nur den Apothekergarten, den lassen sie, dachte sie. Nutzloses Grünzeug, das reißen sie nicht aus. Das wird erst der nächste Besitzer machen. Wehmütig betrachtete sie das farbenprächtige Pflanzenmeer, das im hinteren Teil des Grundstücks angelegt worden war. Sechs Felder, umsäumt von kniehohen Buchsbäumchen, durch drei Kreuzwege voneinander getrennt. Sechs Felder, die nach der Indikation der Heilpflanzen bestellt waren. Aber nicht nur die Sammelleidenschaft des Vaters hatte zum Artenreichtum des Gartens beigetragen. Häufig hatten die Bauern unter den Patienten dem Arzt, der die beschwerliche Fahrt in die Dörfer auf sich genommen hatte, aus Dank Ringelblumen, Johanniskraut, Rübengewächse, Kamille, Minze oder auch ausgefallenere Pflanzen mitgegeben.

Später saßen sie, erinnerte Mary sich, gemeinsam über den Zweigen, rochen an den Blüten und zerrieben die Blätter zwischen den Fingern. Jede Beobachtung notierten sie sich, und gelegentlich diktierte der Vater Mary noch ergänzende Aussagen der Bauern. Abschließend nahm er die Wurzeln, auch die kleinsten, und setzte sie im Garten wieder in die Erde.

Und so kannte ihr Vater für beinahe jede Krankheit eine Arznei und verabreichte sie den Patienten. Arzneien, die er eigenhändig im Garten geerntet hatte. Kranke, die von Ärzten mit terpentinversetzten Einläufen und nicht enden wollendem Aderlass geschunden worden waren, Gutgläubige, die den lamentierenden Quacksalbern auf den Märkten ihre Gesundheit anvertraut hatten – sie alle wandten sich ratsuchend an ihn.

Der eine sollte Bettruhe halten und sich nur von Brühe und Tee ernähren, ein anderer sich mehr an der frischen Luft bewegen und kräftig beim roten Fleisch zulangen. Warme Umschläge, bittere Tees, kleine, süßliche Pillen, vom Apotheker nach genauen Rezepten gestochen, Pülverchen in Wasser aufgelöst, all das kannten die wenigsten, die das Behandlungszimmer betraten. Doch sie begriffen, dass der Doktor mit der modernen Medizin zu helfen verstand. An der Harnschau, an der hielt er jedoch fest. Stets hob er den Körpersaft im gläsernen Kolben gegen das Licht, betrachtete die Farbe, suchte nach kleinsten Partikeln und roch am Flaschenhals, um abschließend seine Diagnose zu stellen. Und Mary ging dem Vater bei seinen Arbeiten zur Hand.

Doch auf eines legte er Wert: Sobald einer der Kranken, sei es Mann oder Frau, mehr als den Brustkorb entblößen musste, hatte sie das Zimmer zu verlassen. Ihre Abwesenheit hinderte ihn jedoch nicht daran, ihr hernach jedes Detail zu schildern und es hin und wieder sogar auf dem Papier zu skizzieren.

So war es immer gewesen. Zuschauen. Zuhören. Begreifen. Bei den Malven erntete man die Blüten, beim Fenchel die Früchte, und beides kam bei Halsentzündungen und Husten zum Einsatz. Sie wusste es noch. Alles. Wahrscheinlich konnte sie es gar nicht mehr vergessen. Es war ihr in Fleisch und Blut übergegangen.

Umsonst.

Alles umsonst.

Es war niemand da, der dieses Erbe weiterführen würde.

Der wunderschöne Baldrian, gegen die flatternden Nerven, hatte in diesem Jahr seine Blätter aus reinem Selbstzweck der Sonne entgegengestreckt. Im Herbst mussten seine Wurzeln ausgegraben werden, und Mary wusste, dass sie nicht mehr hier sein würde, um die Schaufel in die Hand zu nehmen.

Der Abend brach an, und mit der Dunkelheit kam die Kühle. Jetzt erst erhob sie sich, trat an das Kräuterbeet und griff mit einer Hand zwischen Thymian und Liebstöckel. Prüfend schaute sie sich um und zog, als sie sich ungestört wähnte, die obere Schicht des Rockes zur Hüfte hoch. In die entstandene Wölbung ließ sie sandige Erde rieseln. Kleine Steine landeten im Rock, die sie flink heraussortierte.

Durch die Verandatür betrat sie ihr Zimmer. Rechts an der Wand stand das Toilettentischchen, ein weißes, mit geschwungenen, feinen Beinen, mit einem großen Spiegel und Schubladen für Kämme, Schleifen, Puder und Pinselchen. Sie ließ die Erde auf die Ablage rieseln und klopfte die dunklen Flecken aus dem Rock. Die Kerzenleuchter brannten bereits. Sorgfältig sperrte sie die Fensterläden zu und riegelte die Türen ab.

Ihr Blick glitt über das sorgfältig gemachte Bett und blieb dann an den Türen des Schrankes hängen, die offenstanden. Sie griff nach dem Knauf und sah das schwarze Loch: Eines der Fächer war gänzlich ausgeräumt. Die Kleidung für die Exkursionen fehlte. Die Röcke, die Oberbekleidung, die Tücher, die Umhänge, die Hauben und Mützen, die Taschen. Doch am schlimmsten wog der Verlust der Hosen. Ihrer eigenen Hosen. Die sie bei Exkursionen, die in unwegsame und einsame Gegenden geführt hatten, oft getragen hatte. Verborgen unter dem Rock, den sie erst im Schutz der Wildnis abgelegt hatte. Woher hatte Henriette von den Hosen gewusst? Sie musste im Schrank gewühlt haben.

Mary schluckte, und die Wut brannte heiß auf ihren Wangen. Sie brauchte ihre Hosen, irgendwelche Hosen, anders war der Plan nicht in die Tat umzusetzen. Sie atmete tief durch, trat zum Schrank und fasste ins obere Fach, hinter das feste Mieder für den Winter. Henriette hatte nicht alles entdeckt. Eilig öffnete sie das Kleid, zerrte an dem Stoff und hörte Nähte knacken. Es fiel auf den Boden. Sie entledigte sich des Mieders, legte den Unterrock ab und schlüpfte in die lange Unterhose. Die restliche Kleidung würde sie sich später besorgen, vorerst standen dringlichere Veränderungen an.

Der Blattschmetterling. Dieses kleine Wunderwerk der vollendeten Anpassung an äußere Gegebenheiten hatte es ihr vorgemacht. Wohl verwahrt im Schreibtisch des Vaters, hatte er sie aufgefordert, es ihm gleichzutun.

Der Hocker des Toilettentischchens. Ich muss nur Platz nehmen und beginnen. Gar nichts, wirklich gar nichts mehr habe ich zu verlieren, sprach sie sich Mut zu. Doch ich muss anfangen, bevor die Angst mich lähmt. Schnell, schneller.

Mary griff nach der Schere, schnitt ihre Fingernägel ab und hielt die Hand gegen das Licht. Doch die Haut war sauber und glatt. Sie fasste in den Sand und rieb ihre Hände ein, bis die Haut brannte.

Nun fixierte sie ihr Gesicht im Spiegel. Auch hier war alles zu sauber und zu weich. Nochmals fasste sie in den Sand. Ließ ihn in die Waschschüssel rieseln und benetzte ihn mit Wasser aus der Karaffe, die vom Dienstmädchen für die morgendliche Pflege bereitgestellt worden war. Sorgsam vermengte sie beides zu einem schmierigen Brei. Er tropfte ihr auf die Unterhose, als sie ihn auf Wangen, Stirn und Kinn verteilte. Sie ließ die Hände auf den Boden der Schüssel sinken und starrte auf den Schmutz, der langsam herabrutschte, sich seinen Weg suchte und auf der rechten Seite bereits kalt und kitzelnd den Hals erreichte. Was machte sie hier? Sie rieb den Dreck tiefer in die Poren. Dann griff sie nach dem Leintuch und reinigte das Gesicht nur so weit, dass ein feiner, dunkler Schatten aus Schmutz zurückblieb.

Sie öffnete die Schublade des Tischchens, holte den Kohlestift heraus, schwärzte die Augenbrauen, wischte dunkle Schatten auf Oberlippe und Kinnpartie, nahm den herabrieselnden Staub mit den Fingern auf und drückte ihn in die Nagelbetten. Dann ließ sie die Hände sinken und traute sich nicht mehr, in den Spiegel zu schauen.

Gern hätte sie einen Wein gegen das Zittern getrunken, denn der nächste Schritt war entscheidend. Wenn sie es sich anders überlegte, konnte sie diese Tat kaum verbergen. Jeder würde es sehen, nicht einmal die Haube könnte es verdecken. Ihre Hand bebte, als sie nochmals nach der Schere langte und gleichzeitig eine der halblangen Haarsträhnen anhob.