Auch wenn die anderen Zeit und Ruhe brauchten, wieder in ihren Alltag zu finden, und die Götter beschworen, es mögen keine Schiffe mehr über das Meer gefahren kommen, die ihnen Krankheiten und Streit brachten, er würde warten. Darauf warten, dass erneut ein Schiff erschien, und er war sich sicher, dass eines auftauchen würde. Und wieder würden fremde Menschen die Insel betreten und seine Gedankenwelt bereichern.
Sehnsüchtig fragte Owahiri sich, was die eckigen Weißgesichter dann wieder an Anregung und Abwechslung mit sich bringen würden. Vielleicht, aber das galt es mit Revanui und Tupaia abzustimmen, würde auch er sich einmal auf einem der großen Schiffe nach England mitnehmen lassen.
Plymouth, 10. September 1787
Sie schritten durch den Garten. Nur im Schatten ließ sich die ungewöhnliche Hitze ertragen, die der Herbst in diesem Jahr bereithielt. Selbst den Vögeln schien es zu heiß, ihre Lieder zu singen, eine brütende Stille lag über allem.
Mrs. Fincher trug trotz der ungewöhnlichen Temperaturen ein hochgeschlossenes, dunkles Damastkleid, das mit feinen Ornamenten durchwirkt war. Die Jahreszeit hatte ihren Teint rosiger gemacht, der sanfte Farbton auf den Wangen nahm jedoch nicht die Strenge von ihren Zügen.
»Was führt Euch nach so langer Zeit zu mir?«, fragte sie, während sie stehen blieb und eine vertrocknete Blüte aus einem Rosenbusch zupfte.
Kurz sah Landon sich um. Rosen, nichts als Rosenbüsche. Akkurat gestutzt und eintönig nach Farben gepflanzt. Er räusperte sich. »Mrs. Fincher, ich habe um ein Gespräch gebeten, um Euch dies hier zu übergeben.« Mit kalten Fingern zog er das Kuvert aus seinem Mantel.
An ihrem Blick sah er, dass sie die Schrift sofort erkannte. Den Brief rührte sie nicht an und zupfte stattdessen eine zweite Blüte aus dem dornigen Busch.
»Sie lebt?«
Landon nickte.
»Gut«, flüsterte sie. »Ich habe es gewusst.«
»Wenn Ihr den Brief erst einmal in Ruhe lesen möchtet, können wir dieses Gespräch auch gern zu einem anderen Zeitpunkt fortsetzen.«
»Ich möchte diesen Brief jetzt nicht lesen, ich möchte wissen, woher Ihr ihn habt.«
Das hättest du dir ausrechnen können, dass sie dich nicht einfach gehen lässt, dass sie nachhakt. Es gibt kein Zurück, du wirst ihr jetzt die ganze Wahrheit sagen müssen. »Ein Schiffsjunge, der auf der Sailing Queen mitreiste, überbrachte ihn mir. Dort hatte Mary angeheuert.«
Er zögerte. Sag es ihr, beschwor er sich, du musst es ihr sagen. Kurz sog er die Luft ein und fuhr dann fort, ohne Mrs. Fincher aus den Augen zu lassen. »Sie hat sich als Mann verkleidet. Als Gehilfe des Botanikers war sie tätig, und noch immer scheint sie sich zu Forschungszwecken im Stillen Ozean aufzuhalten.« Er spürte die Brutalität seiner Worte und wünschte, es langsamer angegangen zu sein. Über Tage hatte er im Kopf die Sätze formuliert, behutsame Formulierungen, um ihr die Wahrheit beizubringen, und herausgekommen war eine sachliche und schonungslose Zusammenfassung der Umstände.
Jegliche Farbe war Henriettes Wangen entwichen. Sie starrte auf die weißen Blütenköpfe. Auf ihrem Hals hatten sich rote Flecken gebildet. »Sie ist … Sie hat …« Kopfschüttelnd unterbrach sie sich.
»Mrs. Fincher, es geht noch weiter. Sie wurde auf Tahiti enttarnt, und die gesamte Mannschaft kennt diese Geschichte. Ich fürchtete schon, sie sei mir vorausgeeilt und hätte Euch längst erreicht.«
»Nein, das hat sie nicht. Doch das sind jetzt sehr viele Informationen auf einmal. Ich danke Euch dafür, dass Ihr mir diese Nachricht überbracht habt. Sollte ich noch Fragen haben, würde ich gern William nach Euch schicken, wenn es recht ist?« Sie trat auf Landon zu, nahm ihm den Brief aus der Hand und wandte sich ab.
William stand in der Tür zum Garten, als Landon sich dem Haus näherte. »Braucht sie etwas?«, fragte er nur.
»Zeit wird sie brauchen, um die Neuigkeiten zu erfassen.«
William nahm den Blick nicht von der reglosen Silhouette vor den Rosenbüschen. »Es ist so, wie wir es angenommen haben, oder? Sie war an Bord, nicht wahr?«
Landon nickte.
»Dann müssen wir jetzt nur noch auf ihre Rückkehr warten«, sagte William leise und lächelte.
Land’s End, 22. Mai 1788
Gnadenlos verbiss sich der Wind in der dicken Jacke und fuhr selbst noch durch die darunterliegenden Schichten wärmender Wolle. Mary schlang die Arme um ihren Oberkörper. Trotz der Kälte waren auch viele Männer der Freiwache an Deck. Englands Küste konnte augenblicklich auftauchen, und offensichtlich wollte kaum jemand die Ankunft in der Heimat verpassen.
Eines der Bramsegel riss mit einem knallenden Geräusch auseinander. Lose flatterten die Stofffetzen im Wind. Am Tag zuvor hatte der Zimmermann erst einen Bruch in der Großmars notdürftig geflickt. Das Schiff ächzt in jeder Planke. Die Masten sind morsch, die Segel können dem Wind nicht mehr standhalten. Wie wohl der Kiel aussieht? Von Würmern zerfressen, und was noch nicht zerfressen wurde, ist durchgefault. Hoffentlich erreichen wir bald Land, dieses Schiff hat seinen Dienst getan, dachte Mary. Vor Kälte zitternd rieb sie die Hände aneinander.
»Wir werden jeden Moment Land sehen können.« Kapitän Fairbanks lehnte sich neben sie und stützte die Arme auf der Reling ab. Der Seesoldat, der, sobald Mary das Deck betrat, stets an ihrer Seite blieb, zog sich zurück. Auch nach den Monaten der gemeinsamen Reise, in denen sich die Mannschaft ihr gegenüber vortrefflich verhalten hatte, ließ der Kapitän nicht von dieser Anordnung ab.
In springenden Wellen jagte das Wasser blaugrau am Schiff vorbei. Nirgends waren Äste, ein größeres Stück Holz oder gar ein Baumstamm auszumachen. Sie hob den Blick gen Himmel, der sich tief herabsenkte. Kein Vogel, kein Insekt. »Woher wisst Ihr so genau, dass bald Land zu sehen ist?«
Der Anflug eines Lächelns war in den Mundwinkeln des Kapitäns erkennbar. »Diese Aussage ist das Ergebnis von Berechnungen, dem Lauf der Wellen, dem Geruch der Luft und meinem Gefühl. Vielen Kapitänen ergeht das ebenso. Sie spüren und riechen Land, bevor sie es sehen. Das bringt die langjährige Erfahrung mit sich.«
Der Segelmacher lief an ihnen vorbei, das Bramsegel unter dem Arm.
»Wollen wir hoffen, dass wir unsere Ankunft noch erleben«, sagte der Kapitän. Er zwirbelte die Spitze seines Bartes und schaute Mary direkt an. »Genug der Scherze. Dass das Schiff in einem besorgniserregenden Zustand ist, wird Euch aufgefallen sein. Doch das soll nicht Eure Sorge sein.«
Er ließ die Bartspitze los, und der Wind riss die ineinandergedrehten Haare auseinander.
»Ich möchte wissen, ob wir Euch, bevor wir in Plymouth einlaufen, von Bord bringen sollen? Vielleicht möchtet Ihr erst einmal unerkannt nach Hause reisen.« Er griff sich wieder an seinen Bart.
»Lasst mich die Frage andersherum formulieren: Möchtet Ihr, dass ich früher von Bord gehe? Ist Euch der Gedanke unangenehm?«