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Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Nein, da täuscht Ihr Euch, es geht mir um Euer Wohlbefinden.«

Vor ihrem inneren Auge sah Mary die Kisten, die im Ladedeck einen Großteil des Raumes einnahmen. Pflanzen, Samen, Insekten, Felle, Gesteinsproben, Waffen und Gebrauchsgegenstände aus ungezählten Regionen dieser Welt. Skizzen, Zeichnungen und Texte, zum Teil noch von Carl aufs Papier gebracht. Ihr wurde warm ums Herz. Kostbarstes Gut, das sie nach Hause brachte und das sie nicht alleinlassen konnte. Tag für Tag hatte sie während der Heimreise am kleinen Tisch in ihrer beengten Kajüte gesessen und weiter daran gearbeitet. »Habt Dank für Eure Fürsorge, aber ich möchte in Plymouth von Bord gehen.« Ich werde es jetzt zu Ende bringen. Mit aller Konsequenz, dachte sie und zuckte zusammen, als zeitgleich der Ruf erscholclass="underline" »Land in Sicht!« Das ist das letzte Mal, dass ich diesen Ruf höre. Sie schaute zum Horizont.

Der Kapitän legte ihr die Hand auf die Schulter, drückte sie und eilte davon.

Marys Augen brannten vom Wind und konnten doch nichts entdecken. Der Horizont blieb öde und leer.

»Da, da hinten. Es ist kaum zu erkennen.« Der Arm des Matrosen neben ihr fuhr vor und deutete in den Dunst.

Ein Schatten.

Ein farbloser Schatten, der erste Konturen annahm. Die Klippen von Land’s End schälten sich mit jeder Sekunde, die verging, deutlicher aus dem Grau heraus.

Unruhe brach aus. Ein Großteil der Mannschaft kletterte in die Masten, sodass Mary fürchtete, das Schiff könnte topplastig werden. Trauben von Männern hingen in der windigen Höhe, umklammerten die Wanten und ließen den Schatten nicht aus den Augen.

Kein Gejohle ertönte, keine Mützen, die in die Luft geworfen wurden, keine Lieder, die angestimmt wurden. Regungslos schaute ein jeder aufs Wasser hinaus, der Heimat entgegen, und malte sich sein Wiedersehen mit der Familie und Freunden aus.

Carl, was wäre gewesen, wenn wir gemeinsam die Rückfahrt angetreten hätten? Auch wenn ich weitergesammelt habe, wie viel prachtvoller wäre unsere Sammlung heute? Wie wäre es, jetzt deinen Arm zu spüren, mich gegen deinen wärmenden Körper zu lehnen. Sicherlich würden wir beide gerade jetzt gemeinsam daran denken, von nun an in der Gesellschaft als Paar aufzutreten. Sir Carl Belham und Miss Mary Linley. Vielleicht würden wir beide gerade jetzt daran denken, eine Familie zu gründen und das vermutlich erste Forscherehepaar der Welt zu werden.

Ihre Finger gruben sich in die Hosentasche, spürten das kalte Metall des Medaillons, die feinen Linien auf dem Deckel, seine ovale Form. Ihre Hand schloss sich.

Aber so ist es nun: Wir haben keine Rückfahrt mehr angetreten. Ich komme allein, bin ohne dich schutzlos, und das werden sie mich sicher spüren lassen.

Plymouth, 24. Mai 1788

Sie strich noch einmal die Wäsche glatt und richtete sich auf, senkte den Deckel der Kiste und schob die Schlösser zu. Da war dieser unangenehme Druck in ihrem Hals, die Adern, in denen das Blut pulsierte, als wären sie zu klein geworden. Es war zu kühl für das tahitianische Kleid, doch sie hatte keine Wahl. Das Haar trug sie zusammengebunden, der Mode entsprechend, die sie aus der Zeit der Abreise in Erinnerung hatte.

Bei Falmouth, als sie den Hafen passierten, hatte ein Dreidecker der Königsflotte beigedreht, die Zweiunddreißig-Pfünder geladen und das weitgereiste Schiff mit Salutschüssen begrüßt. Stolz hatte Mary in diesem Augenblick erfüllt. Stolz auf die Mannschaften der Sailing Queen und der Challenge und die großartigen Kapitäne, die so anders waren als der Ruf ihres Berufsstandes. Und Stolz darauf, nach England zurückzukehren. Stolz, die Welt umrundet zu haben.

Wo war dieser Stolz geblieben? Selbst der Versuch, sich die Detonationen der Salutschüsse, das leichte Vibrieren des Schiffes in Erinnerung zu rufen, bewirkte nichts. In ihr regte sich nichts. Durch das Bullauge konnte sie den Leuchtturm erkennen.

Musik ertönte. Unzählige Menschen warteten im Hafen, winkten und suchten mit ihren Blicken das Deck nach ihren Liebsten ab.

Die Kette wurde herabgelassen, die Musik schepperte, schief und laut, ein liebevoller Gruß, der das Herz erwärmte. Spitze Schreie von Frauen und Kindern ertönten, Männerstimmen antworteten.

Wie soll ich den Menschen dort draußen gegenübertreten? Wenn sie schon vor meiner Abreise nicht gewusst haben, was sie von einer Frau wie mir halten sollen, wie wird es ihnen dann jetzt ergehen? Wie soll ich Moral, Anstand und Etikette noch ernst nehmen? Sieht denn niemand, womit man sich hier belastet? Mit was für Unsinnigkeiten das Leben schwer gemacht wird?

Mary strich das Kleid zurecht und legte den Umhang um. Sie konnte nicht ewig in der Kajüte ausharren.

Kapitän Fairbanks kam ihr entgegengelaufen, als sie das Deck betrat. »Ich suche Euch schon überall«, rief er. »Darf ich bitten?« Er hielt ihr den Arm entgegen und führte sie zur Laufplanke, die mit jedem Schritt auf und ab federte. Sie atmete tief durch, reckte den Rücken und hob das Kinn. Kurz darauf berührte ihr Fuß festen Boden.

Englands Boden.

Männer, die sie nie zuvor gesehen hatte, prächtig herausgeputzt, begrüßten den Kapitän, darunter auch Männer in Navy-Uniformen. Marys Puls schlug so derb und laut, dass sie ihn in ihren Ohren spürte und dass keine der Begrüßungen sie erreichte. Sie knickste, sie lächelte, sie nickte. Das Einzige, was sie immer wieder verstand, waren Kapitän Fairbanks’ Worte: »Sir, das ist Mary Linley, Ihr hörtet sicherlich bereits von ihr.«

Das Begrüßungskomitee ist abgeschritten. Sie haben mich gehen lassen. Erst einmal. Ich habe etwas Zeit gewonnen, dachte sie wenig später und spürte das Zittern ihrer Knie.

Der Kapitän schaute sie an. »Danke«, flüsterte sie, dann drehte er sich um und verschwand, um einen der Honoratioren der Stadt zu begrüßen.

Sie stand in der Menge, die Menschen drängten an ihr vorbei, und niemand nahm Notiz von ihr. Vielleicht hielt man sie für die Ehefrau eines Offiziers, die man in Falmouth an Bord genommen und das Stück hatte mitreisen lassen.

Ein Mann hob einen kleinen Jungen auf seine Schultern, eine Frau weinte, lachte und winkte. Kinder drängten sich vorbei, um in den ersten Reihen bessere Sicht zu erlangen.

Müde war sie. Der Puls hatte das Rasen, die Beine das Zittern aufgegeben, und zurückgeblieben war nichts als bleierne Müdigkeit. Wieder ließ sie ihren Blick schweifen. Niemand ist gekommen, um mich zu begrüßen. Kein Wunder, woher sollen sie wissen, dass ich auf diesem Schiff bin? Dass ich lebe? Ich bin gestorben für sie, irgendwann in den letzten Jahren bin ich für sie gestorben. Wo soll ich mich hinwenden?

Henriette.

Mehr bleibt mir nicht, auch wenn sie mir sicherlich die Tür vor der Nase zuschlägt. Den immer noch in den Hafen eilenden Menschen entgegen, schob sich Mary durch das Gedränge.

Es waren die Augen, die sie zuerst entdeckte. Die dunklen Augen, mit dem warmen, alles durchdringenden Blick. Kurz sahen sie einander an, dann schoben sich zwei eingehakte Frauen vor ihn und nahmen ihr die Sicht.

William. Er war es.

Mary drängte zur Seite, stellte sich auf die Zehenspitzen und sah den winkenden Arm. Er hatte sie erkannt.

Den Rock angehoben, lief sie auf ihn zu. Die Falten hatten sich tief in seine Haut gegraben, das Haar war schütter geworden, und seine gesamte Erscheinung wirkte noch dünner, fast hager. Aber er war es. William Middleton. Der warme Ton seiner Stimme umarmte sie: »Willkommen, Miss Linley. Darf ich Euch bitten, mir zu folgen.«

»William. Du bist hier. Wie geht es dir?« Sie blieb vor ihm stehen, lachte und legte ihre Hände um seine und hielt sie fest. »Wo fahren wir hin?«