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Das letzte Mal, dass sie Henriettes Haus besucht hatte, war zur Beisetzung des Onkels gewesen. Viel verändert hatte sich seitdem nicht. Der Eingangsbereich hatte etwas Rustikales, etwas Warmes, Gemütliches, so wie es der Onkel in seiner Bodenständigkeit gern gemocht hatte.

William nahm ihr den Umhang ab, und sein Blick blieb an ihrem Kleid hängen.

»Das ist selbst gefertigt. Etwas anderes hatte ich nicht dabei.«

»Ich weiß«, sagte William, und Mary spürte, wie sich das Schuldgefühl warm in ihrer Magengrube ausbreitete. Dann schritt er zur Flügeltür am Kopf des Flures. »Bitte, tretet ein.«

Henriette saß vor dem Feuer, in einem Sessel. Keine Handarbeit, kein Buch auf dem Schoß.

Sie hat unsere Ankunft erwartet. Nein. Sie hat auf mich gewartet.

Mary knickste. Was soll ich sagen? Wie geht es dir? Nichts als eine Phrase, so hohl und leer. Das kann ich nicht machen. Was erwartet sie von mir? Was erhofft sie sich zu hören? Nach wenigen Schritten blieb sie unschlüssig im Raum stehen.

»So, da bist du wieder. Setz dich bitte zu mir«, sagte Henriette und winkte Mary heran. »William, gern würden wir einen Tee zu uns nehmen.«

Er nickte, schob den Stuhl zurecht und wartete, bis Mary Platz genommen hatte. Erst dann verließ er das Zimmer.

Es war ein unangenehmes, ein betretenes Schweigen, das sich ausbreitete. Ein Schweigen, das sie nur mit ihren Blicken zu füllen vermochten. Eine Ewigkeit erschien es Mary, in der die eine das Gesicht der anderen abtastete und dann doch nichts zu sagen hatte. Henriette war Henriette geblieben, und Mary war als Mary zurückgekehrt.

Irgendwann senkte Henriette den Blick und schaute auf ihre Hände, die sie, wie zum Gebet ineinander verschränkt, im Schoß liegen hatte. Ohne den Kopf zu heben, ergriff sie das Wort: »Viele Menschen, die dir nahestanden, haben sich große Sorgen gemacht. Aber was sage ich dir? Du bist eine kluge Frau, du wirst darum gewusst haben, und du hast es in Kauf genommen. Das war der Preis, den wir zahlen mussten. Ich hoffe nur, dass du erreicht hast, was dir wichtig war.«

»Ich werde das erklären können und mich darum bemühen, wiedergutzumachen, was ich angerichtet habe«, warf Mary eilig ein, und ihre Wangen begannen vor Scham zu brennen. Armselig klangen ihre Worte.

»Du wirst nichts wiedergutmachen müssen«, warf die Tante ihr müde hin. »Ich habe jedem, der nach dir fragte, erzählt, dass du bei Verwandten in Colchester lebst. Und bei dieser Version möchte ich bleiben: Du bist gerade wieder aus Colchester angereist.«

»Jeder wird erfahren, dass ich an Bord eines Schiffes war.« Mary sprang auf.

»Niemand wird sich dafür interessieren, was ein paar versoffene und verdreckte Matrosen in ihren Kaschemmen von sich geben.«

»Nein, Henriette, es geht nicht darum, was ein paar Matrosen erzählen werden. Ich war an einer großen Forschungsarbeit beteiligt, und überall, auf bald jedem Bogen, taucht auch mein Name auf. Man wird das nicht ignorieren können. Außerdem habe ich die Aufgabe, die Ergebnisse dieser Arbeit der Royal Society zu übergeben, und das werde ich tun.«

»Also geht es wieder nur darum, was du willst?«

»Nein, das ist ein letzter Wunsch, den ich jemand anderem erfülle. Dem auf der Reise verstorbenen Botaniker Sir Carl Belham. Du hast mich gefragt, ob ich erreicht habe, was ich wollte. Ja, Henriette, ich konnte von Vater Abschied nehmen. Ich habe so viel erlebt und so viel gelernt und auch, was meine Arbeit betrifft, mehr erreicht, als ich mir je hätte träumen lassen. Aber ich habe auch ebenso viel verloren. Auch ich habe meinen Preis gezahlt. Das Leben ist so vergänglich, es ist so kostbar, zu kostbar, es mit Lügen zu verstellen, ich wäre in Colchester gewesen.« Sie biss sich auf die Lippen und fühlte ihr Herz hämmern.

Henriette blickte noch immer auf ihre Hände und schwieg.

»Ich werde nicht leugnen, wo ich war. Das kann ich nicht. Dafür ist zu viel geschehen.«

Die Tür öffnete sich und William kam herein. Er trug ein Tablett, auf dem zwei Gläser mit goldbraun schimmerndem Tee standen und einen Hauch Behaglichkeit verbreiteten.

Henriette sah auf. »Gut, dann wäre ja alles gesagt. Lass mich nachdenken. William wird dir derweil dein Zimmer zeigen. Erfrisch dich bitte, im Schrank findest du Wäsche und Kleider.«

Es hat sich nichts geändert, durchfuhr es Mary. Ihr wurde kalt.

Plymouth, 27. Mai 1788

Als das Schiff am Horizont aufgetaucht war, hatte sich, wer laufen konnte, auf den Weg zum Hafen gemacht, um die Ankunft mitzuerleben. Beständig legten Schiffe in Plymouths Hafen an, auch weitgereiste. Selten war eines davon ein Grund, es mit besonderer Aufmerksamkeit zu bedenken. Doch ein Schiff, das von einer Expedition zurückkehrte, war eine Sensation, vielmehr ein Versprechen, dass in der Stadt über Wochen der Gesprächsstoff nicht ausging. Was hatten die Seefahrer nicht ein ums andere Mal an Geschichten mitgebracht? Hinter vorgehaltener Hand Gerauntes von den ungezügelten Leidenschaften der Wilden im Pazifik, entsetzliche Details aus der Cannibal Cove der Maori, die Menschenfleisch verspeisten, oder kaum Fassbares über Kapitän Cooks grausamen Tod auf Hawaii. Kein Anwohner Plymouths wollte sich die Ankunft entgehen lassen, und Landon konnte es niemandem verdenken.

Auch in sein Handelskontor war ein Junge gestürzt, laut hatte er die Neuigkeit ausgerufen, um sofort weiterzueilen. Schweigend hatten seine Angestellten zu ihm, dem Direktor, geschaut, hatten auf ein Wort gehofft, auf eine Schließung des Kontors für einige Stunden. Die Blicke hatte er kaum ertragen, hatte die Korrespondenz ergriffen, und ein jeder hatte die Geste richtig gedeutet. Die Köpfe hatten sich gesenkt, und die Arbeit war wieder aufgenommen worden.

Er hatte sich an seinen Schreibtisch zurückgezogen und doch immer wieder den Blick aus dem Fenster geworfen. Aufs Wasser, auf den Hafen. Er hatte das Schiff gesehen, die Briefe festgehalten und sich nicht gerührt. Lange hatte er überlegt, warum er nicht imstande war, die wenigen Schritte hinüberzulaufen. Wenige Schritte, die es bedurft hätte, um sich zu überzeugen, ob Mary Linley auf der Challenge mitgereist und wohlbehalten angekommen war. Es war keine Wut in ihm, aber auch das Gefühl, das damals so drängend in ihm gebrannt hatte, war erloschen.

Der Schmerz war verschwunden und mit ihm die Leidenschaft. Er war sich nicht sicher, was zurückgeblieben war. Freundschaft? Vorwürfe?

Warum sollte er riskieren, gut verheilte Wunden wieder aufzureißen?

Er konnte nicht sagen, wie viele Stunden er über den Büchern der Linleys verbracht hatte, wie sehr ihn die Materie begeisterte. Dieser Aspekt erschien ihm unstrittig, hier wusste er sehr wohl, dass er Mary jeden erdenklichen Respekt zollte. Doch der Hafen, das Gewühl, der Lärm und die freudigen Begrüßungen erschienen ihm nicht als der richtige Rahmen, ihr zu sagen, dass er ihren Scharfsinn und ihr Wissen bewunderte.

Vielleicht hatte ihn auch die Angst abgehalten, dass sie mit einem Mann zurückkam, dass sie ihn nicht erkannte oder dass sie vor aller Augen abgeführt wurde. Es gab zu viele Ängste in seiner Brust, die Unruhe wäre unerträglich gewesen. Das Wissen, dass William Middleton ihn aufsuchen und berichten würde, hatte seinen Teil dazu beigetragen, im Kontor zu verharren und sich nicht zu rühren.

Und da stand er nun, der alte Mann. Direkt vor ihm und wartete darauf, seinen Bericht beginnen zu können.

Landon nickte ihm zu.

»Mr. Reed, Miss Linley geht es gut, sie lässt Euch herzlichste Grüße ausrichten …«

Leise öffnete sich die Tür. Seth kam herein, mit vorgestreckten Armen trug er ein Tablett, auf dem zwei Tassen Tee standen.

William sah kurz auf und fuhr fort. »Sie ist bei ihrer Tante untergebracht.«