Vor einer Flügeltür hielt der Mann inne. Erst jetzt bemerkte Mary, dass er aussah wie der kleine Bruder von Ebenezer Stone, dem Portier des Navy Board. Mit ebenjenem wässrigen Blick zeigte Ebenezer Stones Ebenbild auf die Flügeltür. »Die Herrschaften erwarten Euch bereits«, sagte er. Dann legte er die in einem weißen Handschuh steckende Hand auf die Klinke und schwang die Flügeltür auf.
Mary rührte sich nicht. Ein Saal lag vor ihr, so groß, wie sie noch keinen gesehen hatte. In U-Form angeordnete Tische, in der Mitte, weitmöglichst von der Stirnseite entfernt, ein Stuhl. Am Tisch Männer jeden Alters, fünfundzwanzig, vielleicht auch mehr. Über den Männern wieder Männer, die von ihren Porträts auf die Szenerie herabschauten.
Der Mann neben ihr hüstelte. Mary betrat den Saal und hörte das Klappern ihrer Absätze auf dem glänzenden Parkett und das Schlagen der Flügeltüren, die hinter ihr geschlossen wurden. Sie blieb stehen, fasste in den Stoff ihres Rockes, hob ihn leicht an und machte einen Knicks.
Die Männer erhoben sich, nickten ihr zu und sanken wieder in ihre Stühle. Unergründliche Blicke, die sie musterten, flogen durch den Raum. Der Mann, der mittig der Stirnseite seinen Platz hatte, blieb stehen. »Miss Linley, seid gegrüßt. Wir möchten Euch bitten, Platz zu nehmen.«
Diese Stimme kannte sie. Sir Joseph Banks. Er war persönlich erschienen, um über ihr Schicksal zu befinden. Hoffnung keimte in Mary auf. Er würde die Tragweite der Arbeit verstehen, er würde die Ergebnisse zu schätzen wissen. Die unzähligen Belege des Herbariums, die Insektensammlung, die Gesteinsproben, das erweiterte Vokabularium, selbst in Fragen der Grammatik waren sie vorangekommen. Gemeinsam hatten sie Sir Banks’ Wörterbuch mit nach Tahiti genommen, und nun würde sie es ihm erheblich ausgebaut wieder überreichen. Auch die Aufzeichnungen zu den Ritualen der Völker auf den Inseln des Stillen Ozeans waren umfassend. All das würde sein Interesse wecken. Sie atmete tief durch. Vielleicht wird alles gut, dachte sie.
Sir Joseph Banks wies auf den Mann zu seiner Rechten, der eine dick gepuderte Perücke trug, die tief in seine Stirn hing. Eine Stirn mit einer Falte, die aussah, als wäre sie mit dem Messer zwischen die Augenbrauen gezogen.
»Jetzt möchte ich das Wort Sir Wellington übergeben«, sagte Banks und lehnte sich in seinen Stuhl zurück, legte die Arme über seinen Bauch und faltete die Hände. Für einen Wimpernschlag sah Mary ihn in der Loge eines Theaters in genau jener Position darauf warten, dass der Vorhang sich hob und das Schauspiel des Abends seinen Lauf nahm.
»Miss Linley«, sagte Sir Wellington und machte eine Pause. »Miss Mary Linley. Die Tochter von Francis Linley.« Er schob seinen Stuhl zurück, erhob sich und verschränkte die Arme hinter dem Rücken.
Wo sich eben noch Hoffnung ausgebreitet hatte, machte sich mit einem Schlag Entsetzen breit. Marys Hände, die auf ihrem Schoß lagen, begannen so stark zu zittern, dass sie das leise Rascheln des Damast-Rockstoffes unter ihnen vernahm.
»So, so«, murmelte Wellington und lief links hinter den Beisitzern entlang, bog dann nach rechts, ohne den Blick von ihr zu lösen. Für einen Moment verschwand er aus ihrem Blickfeld, dann tauchte rechts neben ihr sein massiger Leib auf. Er schlug einen Bogen, umrundete sie, blieb an der inneren Stirnseite des Tisches stehen und lehnte sich gegen die Platte. Die Arme verschränkte er vor der Brust. »So sieht also die Frau aus, die König Georg, die Royal Navy und natürlich auch uns zum Narren gehalten hat. Die sich unter Vortäuschung falscher Tatsachen, ohne eine Qualifikation den gut dotierten Posten eines Zeichners erschlichen hat, um«, Wellington atmete tief ein, »ja, um was? Was hatte eine Frau an Bord eines wissenschaftlichen Expeditionsschiffes zu suchen?«
Er schwieg und blickte auf Marys Finger, die sich in den Stoff ihres Beutels gruben und die Form des Medaillons und der Zinnfigur erspürten. Soll ich etwas sagen? War das eine ernstgemeinte Frage? »Sir«, setzte sie leise an, »mir ist bewusst, dass ich …«
»So, Euch ist etwas bewusst? Euch ist das ganze Ausmaß Eures Handelns bewusst? Euch ist bewusst, dass sich die Royal Society der Royal Navy gegenüber wird erklären müssen?« Wellington stieß sich vom Tisch ab und lief hinter sie.
»Und Euch ist bewusst, dass Ihr das Ansehen eines renommierten Forschers und seines Gehilfen, der auf dem besten Weg war, ein neuer Stern am Firmament der Wissenschaft zu werden, beschmutzt habt? Dass Ihr, man möge mir den Ausdruck verzeihen, zwei Narren aus ihnen gemacht habt, die offensichtlich nicht in der Lage waren, Mann von Weib zu unterscheiden?«
Die Hand war nicht nur nass, sie war eiskalt, als Mary sich damit über die Stirn fuhr. Wellington schwieg, und kurz hoffte sie, er wäre ans Ende seiner Schmähungen gekommen. Sie wagte nicht, sich umzudrehen und ihn anzusehen.
»Ihr habt die Männer der Lächerlichkeit preisgegeben. Das wisst Ihr?« Er war nähergetreten, leise erklang die Stimme, dieses Mal direkt hinter ihr.
Sie schloss die Augen, und ihr Rücken fiel in sich zusammen.
»Habt Dank für Euren Vortrag«, ertönte die Stimme von Sir Joseph Banks, »ich hätte da auch noch gern einige Aspekte erläutert.« Die Arme auf den Tisch gestützt, wartete er, bis Sir Wellington wieder neben ihm Platz nahm. »Miss Linley, gehe ich recht in der Annahme, dass Sir Belham nicht darüber informiert war, dass Ihr eine Frau seid, als man Euch anheuerte?«
Sie schaute auf den Boden und nickte.
Sir Wellington schnaufte auf. »Sag ich’s doch. Eine Betrügerin ist sie«, rief er in den Raum.
»War Sir Belham«, fuhr Sir Joseph Banks unbeirrt fort, »darüber unterrichtet, dass Ihr eine Frau seid, als er mit Euch die Arbeit auf Tahiti aufnahm?«
Sie nickte. »Ja, das war er«, sagte sie, erleichtert, dass ihre Stimme in dem riesigen Saal nun deutlich zu vernehmen war.
»Warum, meint Ihr, nahm er Euch mit? Er hätte Euch auch unter Kapitän Taylors Obhut wieder gen Heimat reisen lassen können.«
»Sir, sicherlich wird Euch die Antwort verwundern. Er versicherte mir mehrmals, er würde meine Arbeit schätzen.«
»Worin bestand Eure Arbeit?«
»Durch meinen Vater erfuhr ich eine umfassende Ausbildung zum Botaniker …«
»Wollt Ihr damit sagen, Ihr seid ein Botaniker?«, lachte Wellington auf.
»Nein, Sir, genaugenommen möchte ich damit sagen, dass ich Botanikerin bin.«
Wellingtons Kinnlade klappte herunter. Einige der Beisitzer hatten sich zueinandergebeugt und flüsterten miteinander.
»Vertraut mit den Systema Naturae«, Mary hob ihre Stimme, um die Unruhe im Saal zu übertönen, »und mit dem Verfertigen von Skizzen und dem Anlegen eines Herbariums, aber auch mit den Grundkenntnissen der Medizin versehen.«
Die Falte auf Wellingtons Stirn hatte sich vertieft, und erneut lachte er boshaft auf.
Sir Banks erhob die Hand, ließ sie flach auf den Tisch fallen und brachte die Männer der Versammlung zum Schweigen.
Nie hätte ich gedacht, dass ich mich einmal so darüber freue, dass diese Hand auf einen Tisch fällt. »Bei einer Überprüfung der mitgebrachten Sammlungsstücke könnt Ihr Euch gern davon überzeugen«, fuhr sie fort. »Alle Schriften, Zeichnungen und Belege des Herbariums, die meiner Tätigkeit entstammen, sind mit meinem Namen gekennzeichnet. Auch die von mir zusammengetragenen Sammlungsstücke sind mir zugeordnet. Darauf legte Sir Belham wert.« Sie legte ihre Hände auf die Lehnen des Stuhls.
Wellingtons Kopf schoss vor, dass sein faltiges Kinn von einer Seite zur anderen schwappte. »Ihr hattet genug Zeit, auf der Rückfahrt alles so vorzubereiten, um auch uns zu täuschen.«
Sir Banks wiegte den Kopf. »Langsam, langsam. Wir sollten erst einmal in Betracht ziehen, dass Sir Belham diese Frau mit sich nahm. Wir sollten in Erwägung ziehen, dass dies sein Entschluss war. Zudem«, er lächelte, »kann ich mich daran erinnern, dass Miss Linley eine, nennen wir es ungewöhnliche erzieherische Aufmerksamkeit seitens ihres Vaters erhielt.«