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Das Blut schoss Mary in den Kopf, und ihre Wangen wurden heiß.

Zwei Männer lachten auf, und Sir Wellington kreuzte die Arme vor der Brust.

»Ja, ich halte es durchaus für denkbar, dass Miss Linley von ihrem Vater eine für Mädchen ungewöhnliche Förderung erfuhr. Deshalb würde ich gern von den Anschuldigungen abgehen und zu der Aufstellung kommen, die der Royal Society von Euch vorgelegt wurde, in der Ihr die Sammlungsstücke in einer Übersicht kategorisiert.«

Ihr Atem wurde flach, und das Bild verschwamm vor ihren Augen.

»Die Herren«, Sir Banks sah sich um, »wenn außer mir noch jemand Fragen hat, bitte ich um Wortmeldungen.«

Mary folgte seinem Blick. Ein Arm hob sich, ein zweiter folgte. Sie richtete sich auf und bat um ein Glas Wasser. Während sie einen Schluck nahm, erhob ein Mann, der unweit von ihr entfernt am linken Ausläufer des Tisches saß, seine Stimme. »Miss Linley, mein Name ist Alexander Warden, Experte für landwirtschaftliche Fragen. Mich würde Eure Einschätzung zur Bedeutung der Brotbaumfrucht für die Landwirtschaft in den Kolonien interessieren.«

Sir Banks lehnte sich interessiert vor.

Mary nahm noch einen Schluck. Sie fragen mich, sie fragen mich um meine Meinung? Die gelehrten Herren sprechen mit mir über die Arbeit und fragen nach einer Interpretation der Ergebnisse? Die Gedanken flogen durch ihren Kopf, sprangen im Takt ihres Herzschlages und waren nicht zu bändigen.

Ja, ich werde ihnen davon berichten.

Carl, ich habe die Ergebnisse unserer gemeinsamen Arbeit nach Hause gebracht. Jetzt ist der Moment, deinen Wunsch zu erfüllen. Man hört mir zu. Nun werde ich allen von unseren Erkenntnissen berichten. Das ist unser Erbe.

Plymouth, 3. Juni 1788

»Es wird Zeit aufzustehen. Du kannst unmöglich den halben Tag verschlafen.« Henriette öffnete das Fenster und sperrte die Holzläden auf. »Das Frühstück ist angerichtet, und die Zeitung wird dich interessieren.«

»Warum?«, fragte Mary und drehte sich auf die Seite. Die Anspannung der letzten Tage lag wie Blei in ihren Gliedern.

»Es wird über die Sammlung des Botanikers Sir Belham berichtet, die seine Gehilfin Miss Mary Linley nach seinem Tod nach Europa überführt hat.«

Mary fuhr in die Höhe, und die Decke rutschte auf den Boden.

Henriette hob sie auf, legte sie neben Mary und setzte sich an den Tisch, der gegenüber dem Bett vor dem Fenster stand. »Da werden so einige Damen und Herren recht erstaunt sein, wenn sie diese Zeilen lesen werden. Doch was soll es dich scheren? Dich wird beruhigen, dass niemand ein Wort darüber verliert, dass du noch von der Royal Navy gehört werden sollst.«

»Sir Banks wird diese Frage mit dem First Lord der Admiralität, einem Richard Howe, besprechen. Sie sind gute Freunde, und sie gehen am Wochenende gemeinsam angeln. Howe angelt gern. Und Sir Banks versicherte mir, dass eine Vorladung dann nicht mehr vonnöten sein wird«, sagte Mary und zog sich fröstelnd die Decke über die Beine.

»Männer und ihre Seilschaften, doch in diesem Fall wären sie zu begrüßen. Und wie wird es weitergehen?«

Mary musterte Henriette. Entspannt saß sie auf dem Stuhl, die Hände auf der Tischplatte abgelegt, und hielt ihrem Blick stand. Keine Ablehnung war in ihrem Gesicht zu erkennen, dennoch war Mary einen Augenblick lang versucht, der Frage auszuweichen und die Tante mit einer schwammigen Antwort hinzuhalten. Die Worte lagen ihr schon auf der Zunge, leicht würden sie ihr über die Lippen gehen. Dass sie nicht abschätzen könne, wie die kommenden Wochen aussehen würden. Früh genug würde Henriette noch sehen, dass die Ankunft in Plymouth nicht das Ende ihrer Arbeit bedeutete. Die Kisten waren im Lager von Landon Reeds Handelskontor eingelagert worden. Sie mussten Stück um Stück geöffnet und gesichtet werden. Hatten die Sammlungsstücke die Reise wohlbehalten überstanden? Waren sie alle entsprechend erfasst und katalogisiert? Für diese Arbeit würde sie einen Raum suchen müssen, der ihr Platz bot, einen hellen Raum mit trockener Luft, um ideale Arbeitsbedingungen zu haben. Erst nach Abschluss der Überprüfung konnte sie die Belege, die Sammlungs- und Schriftstücke der Royal Society übergeben.

»Ich werde in den kommenden Monaten noch viel Zeit darauf verwenden, die Sammlung fertigzustellen«, sagte sie und wusste nicht, was sie dazu veranlasste. »Es sind noch längst nicht alle Sammlungsstücke ordnungsgemäß beschriftet und katalogisiert.«

Zu Marys Erstaunen nickte Henriette, als hätte sie ebenjene Antwort erwartet. »Nun gut. Das werden wir sehen. Genug geschwätzt, heute Abend erwarten wir Gäste. Und auf uns wartet vorab in diesem Haus jede Menge Arbeit.«

»Gäste?« Mary schwang die Beine aus dem Bett.

»Gäste, die dich gern begrüßen möchten, Menschen, die sich freuen, dich wieder bei uns zu haben.« Henriette öffnete die Tür und hielt inne. Sie zögerte. »Sag mal, du hast so viele Dinge von deiner Forschungsfahrt mitgebracht. Hast du dabei möglicherweise an ein paar Samen für unseren Garten gedacht? Das wäre doch hübsch, einige exotische Pflanzen zu ziehen.«

Unseren Garten. Sie hat »unseren Garten« gesagt. In ihrem Rock aus derbem Wollstoff, den Hut zum Schutz gegen die Sonne tief ins Gesicht gezogen, sah Mary die Tante im Garten stehen. Sah, wie sie Furchen in die Erde zog und die Samen darin verschwinden ließ. Wie sie die Furchen schloss und Mary antrieb, die Saat zu wässern.

Wir werden gemeinsam im Garten arbeiten.

Der Knoten im Hals, gegen den Mary anschlucken musste, war groß.

Zu groß, um Worte passieren zu lassen.

Sie nickte und lächelte.

Anhang 

Nachwort

Inspiriert von der Biografie der französischen Botanikerin Jeanne Baret, die im Jahre 1740 geboren wurde und wahrscheinlich 1803 starb, wurde die Geschichte der Protagonistin Mary Linley entwickelt.

Auch wenn die Erlebnisse der Romanfigur Mary Linley abenteuerlich wirken, wurde bei der Verarbeitung der historischen Fakten darauf geachtet, stets im realistischen Rahmen zu erzählen. Die Begebenheiten, seien es etwa die Reiserouten, die Lebensbedingungen an Bord oder auch der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse, sind genauestens recherchiert, um ein Bild des Lebens im 18. Jahrhundert und vor allem ein Bild von den Entdeckungsfahrten dieser Zeit zu vermitteln.

Das Leben der Jeanne Baret ist in Deutschland so gut wie unbekannt. Auch wenn ihr Schicksal in Frankreich geläufiger ist, lässt sich feststellen, dass sowohl ihr Verdienst um die Wissenschaft als auch ihr Mut dem Vergessen anheimgefallen sind. Der Roman hat es sich zur Aufgabe gemacht, der Leserschaft eine Vorstellung davon zu verschaffen, welche Risiken diese Frau auf sich genommen hat, um ihren Traum zu leben. Und somit steht die Geschichte der Jeanne Baret stellvertretend für die Biografien von Frauen, die im 18. und 19. Jahrhundert den gesellschaftlichen Vorstellungen vom klassischen weiblichen Rollenmodell trotzten und ihr Leben der Forschung widmeten.

Porträt Jeanne Baret

1768 sticht das Schiff des französischen Kapitän Bougainville in See, um den Südpazifik zu erkunden. An Bord befinden sich viele Wissenschaftler, darunter auch der Botaniker Commerson in Begleitung seines Assistenten Jean Baré. Was keiner ahnt: Jean Baré ist eine Frau. Sie ist ausgebildete Botanikerin, doch nur in Männerkleidung ist es ihr möglich, wissenschaftlich zu arbeiten und die Welt zu erkunden.