Выбрать главу

Die erste Locke sank zu Boden.

Dann die zweite.

Die dritte.

Vielleicht sollte sie doch aufhören? Aber es war zu spät, es gab kein Zurück. Die linke Kopfhälfte hatte kurzes, die rechte langes Haar. Das Aufeinanderschlagen der Schneiden wurde zum Stakkato im Takt ihres Herzschlages. Hart und schnell und laut.

Mary strich über das daumenlange Stoppelfeld. Es war ihr Haar, das sich mit einem Mal so borstig und fest anfühlte. Eine Fremde schaute ihr aus dem Spiegel entgegen. Das gespaltene Kinn, ein Grübchen, vom Vater vererbt, trat jetzt deutlich hervor.

Vor ihr lag der zweite entscheidende Teil der Anpassung. Im Spiegel musterte sie ihre Brüste, nahm sie in die Hände, hob sie an und drückte sie flach. Ich muss sie wegschnüren, dachte sie, und gegen den Brustkorb pressen, um ihnen jede Möglichkeit der Bewegung zu nehmen.

Sie stellte den Kerzenleuchter vor den Schrank und begann, ihre Kleider herauszureißen. Sorgsam prüfte sie jedes Teil, ob es in Frage kam, für einen Brustwickel aufgetrennt zu werden. Aber letztlich warf sie Stück für Stück achtlos auf den Boden. Bei einem der Kleider hielt sie inne. Es war aus leichtem Baumwollstoff, in dunklem Grün. Wo war die Schere? Hastig schob sie die Schneide unter die Nahtkante, trennte sie auf und riss eine Bahn der Länge nach ab. Dann ließ sie Kleid und Schere fallen und legte den Streifen um den Rücken. Vor der Brust sperrte er auf. Ob sie einen weiteren Streifen abtrennen und darannähen sollte? Sie wusste, dass sie dafür jetzt keine Geduld aufbrachte. Verzweifelt setzte sie sich auf den Boden und lehnte sich gegen das Bett.

Das war es.

Sofort sprang sie auf, zerrte das Laken von der Unterlage und zerschnitt es in schmale Streifen.

Wie sollte sie es binden? Den Stoff um den Rücken gelegt, presste sie ihn unter ihre Arme, bis fast in die Achselhöhlen hinein, und drückte ihn gegen den Oberkörper. Das eine Ende hielt sie mit der linken Hand vor das Brustbein. Mit der rechten Hand legte sie das lange Ende über beide Brüste und wickelte die zweite Lage um den Rücken. Mit zitternden Fingern klemmte sie die Enden in die Stoffbahnen, beugte sich vor, fasste nach dem Laken und riss einen dünnen Streifen ab. Um die Stofflagen zu fixieren, band sie den Streifen mehrmals um das Schnürleibchen, zog es enger und enger, bis es ihr den letzten Rest Weiblichkeit nahm.

Zufrieden zog Mary ihr Nachthemd über das Schnürleibchen, betrat den Flur und lief zum Schlafzimmer des Vaters hinüber. Es war unberührt. Ob Henriette Skrupel hatte, es aufzulösen?

Langsam öffnete sie die in den Angeln knarrenden Türen des alten Schrankes und sah die Wäsche durch. Als sie nach dem blauen Oberhemd griff, zögerte sie und roch daran. Die Zeit hatte den frischen, seifigen Geruch des Vaters verschwinden lassen. Mary streifte das Hemd über den Kopf und kontrollierte den Anblick im Spiegel. Der Kragen betonte den Hals und damit das Fehlen eines Adamsapfels. Eines der Halstücher ließ den Mangel verschwinden. Hernach streifte sie die grobe Hose über, krempelte die Hosenbeine um, zurrte den Gürtel fest, stopfte Taschentücher in die Schuhe und schlüpfte hinein. Diese Schuhe hatte ihr Vater stets getragen, wenn er zu seinen Exkursionen ins Umland aufgebrochen war. Nun werde ich darin aufbrechen, dachte sie. Zu einer weitaus größeren Exkursion.

Was benötigte sie noch? Den Seesack. Die leichte Garnitur für die Südsee. Wollenes Zeug für die kalten Regionen und das Regenzeug gegen die Stürme. Selbst einen Südwester aus ölgetränkter Leinwand mit breitem Nackenschirm und eine Mütze entdeckte sie. Hastig drückte sie alles in den leinenen Seesack.

In ihrem Zimmer schob sie die Teakschatulle mit dem Schmetterling sowie das bisher unter dem Bett versteckte Studienbuch zwischen die Wäsche. Zum Schluss steckte sie ein ledernes Beutelchen mit Münzen in die Hosentasche, befestigte die Mappe mit ihren Zeichnungen am Riemen des Leinensacks und griff sich Jacke und Mütze.

Noch einmal sah sie sich um. Die Haare auf dem Boden, die Schüssel mit dem Schlamm, der zerwühlte Schrank, das Laken und das zerschnittene Kleid. Erschrocken ließ sie den Leinenbeutel sinken. Ich kann noch nicht gehen, ich muss meine Spuren beseitigen, dachte sie und trat an den Schrank, um die Kleidungsstücke wieder an ihren Platz zu sortieren. Dann ergriff sie Kleid und Laken, wand sie zu einem Stoffballen und ging vor dem Bett auf die Knie.

Selbst wenn ich alles in die hinterste Ecke schiebe, wird William es finden. Das geht nicht. Sie umklammerte das Knäuel. Er wird zu Tode erschrecken, wenn er das zerrissene Kleid entdeckt. Das kann ich ihm nicht antun. Wie seinen Augapfel hat er mich behütet. Vom ersten Tag an. Vom Tag meiner Geburt an.

Nein! Nicht daran denken! Sie durfte jetzt nicht daran denken! Dass er es gewesen war, der in der Küche das heiße Wasser über der Feuerstelle zum Kochen gebracht und in Schüsseln gefüllt hatte. Alles hatte er ihr beschrieben. Seine Freude, dass es Nachwuchs geben würde. Wie er sich die Finger verbrüht hatte, als er das Wasser in eine Schüssel füllte. Dass er sich jeden Fluch verkniffen hatte, weil er nicht riskieren wollte, dass das Kind als Erstes unflätige Worte zu hören bekam.

Mary legte den Stoffballen aufs Bett. Mit steifen Beinen erhob sie sich und nahm die Schüssel und die Wasserkaraffe vom Toilettentischchen. Sie schluckte, als sie sich William über der Feuerstelle vorstellte. Leise betrat sie den Garten und kippte den Schlamm in eines der Beete. Spülte die Schüssel mit dem Rest Wasser aus und rieb mit ihrem Hemdsärmel die Schmutzränder weg.

Sie sah zum Haus, doch alles war dunkel. »Eine der dunkelsten Nächte meines Lebens«, hatte William geflüstert, »der letztlich doch ein heller Stern entsprang.« Sein Blick war glasig geworden, und Mary hatte sich gewünscht, die Bilder zu sehen, die in seinem Kopf Form annahmen. Vergeblich hatte er damals nach der Köchin gesucht. Also hatte er die Zähne zusammengebissen und die Schüssel zum Schlafzimmer gebracht. Die Hebamme nahm sie ihm ab und schob die Tür mit dem Fuß zu. Er hörte das Wehklagen ihrer Mutter und die Hebamme, die forderte, sie solle pressen, pressen, pressen. Als endlich der Schrei ertönte, ganz dünn und brüchig, wusste er, dass sie geboren worden war. Er hatte es nicht gesagt, aber Mary hatte seinem Gesicht angesehen, dass ihn die Erinnerung an diesen kurzen Moment glücklich machte.

Doch mit dem Gedanken an die Hebamme war der Schatten auf sein Gesicht zurückgekehrt. Sie riss die Tür auf und rief durch den Flur, dass sie frische Tücher brauche. Selbst auf die Entfernung konnte er erkennen, dass Hände und Rock blutverschmiert waren. Er hatte den Stoffberg ins Zimmer gereicht, und wieder hatte er Blut gesehen. Überall. Auf dem Laken und in den Tüchern am Boden.

Mary betrat ihr Zimmer und stellte die Schüssel samt der Karaffe an ihren Platz zurück. Dann nahm sie Kleid und Laken vom Bett. Weich lagen die Stoffe in ihrer Hand. Sie schaute auf ihre Finger. Hatten so auch die Hände der Mutter ausgesehen, die der Vater in dieser Nacht nicht mehr losgelassen hatte? William hatte in der Tür gestanden. Das Stöhnen der Mutter hing mit dem Geruch von warmem Blut in der Luft. Der bleiche Vater sah die Hebamme an, die beste der Gegend, doch sie schüttelte den Kopf. Weitere Ärzte erschienen in dieser Nacht. William ließ sie eintreten, wie auch die Quacksalber und Kräuterfrauen, die kurz darauf eintrafen. Als sie gingen, verstand er die sorgenvollen Mienen zu lesen. Wenig später kam die Amme, und er wusste nicht einmal, wer sie schickte. Aber er war dankbar, dass sie da war. Nach dem Stillen hatte sie ihm das Kind in die Arme gelegt, und er hatte, als er den Kopf senkte, den Duft wahrgenommen. Diesen ganz eigenen Geruch, den nur Neugeborene haben. Er hatte nicht aufhören können, ihn einzuatmen, im Haus war es darüber still geworden.