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»Warum muss das ein Gegensatz sein?« Esther zog die Augenbrauen zusammen und deutete durch die Tür zum Treppenhaus. »Unterm Dach ist noch Platz. Komm hoch, wenn du fertig bist. Ich zeig dir dann deine Bettstelle.«

In diesem Bett lag Celia nun und konnte kaum begreifen, dass seit ihrer Ankunft in London gerade einmal sechs oder sieben Stunden vergangen waren. Durch eine kleine Luke in der Dachschräge sah sie den beinahe vollen Mond, und ein dünner Lichtstreifen fiel auf den Sinnspruch über ihrem Kopf: »Bist du bereit zu sterben?«. Celia hatte Esther gefragt, was es mit dieser seltsamen Frage auf sich habe, und die alte Frau hatte geantwortet: »Sei bereit, wenn dein Herr dich ruft! Und lebe immer so, als wäre der heutige Tag dein letzter und als müsstest du dich im nächsten Augenblick vor Gottes Gericht verantworten. Wenn du bereit bist, kann dir nichts geschehen.«

Celia hoffte inständig, dass heute nicht der letzte Tag in ihrem Leben wäre. Noch nie hatte sie sich so einsam und elend gefühlt, noch nie hatte sie so viel Angst und Verzweiflung gespürt, noch nie war sie sich so verloren vorgekommen.

»Raus da!«, hörte sie im nächsten Augenblick eine heisere Frauenstimme direkt über sich. »Das ist mein Bett!«

Als Celia die Augen aufschlug, sah sie einen Schatten über sich, und sie spürte, wie eine Hand an ihrer Schulter zerrte.

»Was ist denn?«, fragte Celia. »Was ist los?«

»Du liegst in meiner Koje«, keifte eine Frau, deren Atem nach Alkohol und Galle roch. Sie kam Celia im nächsten Moment so nahe, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten, nur um gleich darauf wieder zurückzuschwanken.

»Leg dich doch dorthin«, schlug Celia vor und deutete auf das freie Nachbarbett. »Kommt doch aufs Gleiche raus.«

»Ich lieg immer an der Wand«, rief die Frau und schleuderte Celia beim Sprechen Spucketröpfchen ins Gesicht. »Immer!«

»Ruhe da drüben! Was soll ’n der Lärm? Hört auf zu keifen!«, protestierten einige Frauen, die von dem Geschrei geweckt worden waren.

»Leckt mich!«, schnauzte die betrunkene Frau zurück.

»Das hättest du wohl gern, Heather«, lachte jemand. »Und jetzt halt die Klappe!«

Celia hatte in der Zwischenzeit rasch ihr Bettzeug und den Koffer genommen und sich in das leere Bett gelegt. Sie wollte keinen Aufruhr verursachen, und letztlich war es ihr egal, wo sie schlief. Solange sie ein Bett hatte. Auch wenn sie es bedauerte, die angewärmte Matratze verlassen zu müssen.

»Na, geht doch«, meinte Heather triumphierend und setzte sich auf die Kante des eroberten Bettes. »Und lass dich nicht von den Bettwanzen beißen.«

FREITAG, 19. OKTOBER 1888

4

Am nächsten Morgen bekam Celia Schwester Florence zum ersten Mal zu Gesicht und war überrascht, wie jung der weibliche Captain war. Celia schätzte sie auf vielleicht fünfundzwanzig Jahre. Wie alle anderen Soldatinnen des Heils, die sich selbst Salutistinnen nannten, trug auch Florence Soper Booth eine schlichte dunkelblaue Uniform und eine schwarze Haube aus Strohgeflecht. Dass sie als Captain den anderen Mitgliedern der Heilsarmee vorstand, war lediglich an den zwei Sternen auf ihrem Kragen zu erkennen. Captain Florence trat während des Frühstücks, das aus Brot, Milch und Porridge bestand, an Celia heran und begrüßte sie herzlich. Sie wiederholte im Grunde das, was Esther in der Nacht bereits gesagt hatte, wies jedoch mit blumigen Worten darauf hin, dass viele der anwesenden Frauen tagsüber mit Handarbeiten und Hausdiensten beschäftigt seien und Celia eingeladen sei, ihnen zur Hand zu gehen. Captain Florence erklärte ihr, dass die Frauen Lumpen, Stoffreste und abgelegte Kleidung sammelten und die schadhaften Sachen anschließend ausbesserten oder zu neuen Kleidern verarbeiteten, um sie entweder an die Bedürftigen im East End weiterzugeben oder auf dem nahen Petticoat Lane Market zu verkaufen; mit diesen Einnahmen sicherten sie den Unterhalt des Frauenasyls. Als Celia erwähnte, dass sie in Essex als Schneiderin und Näherin gearbeitet habe, und sich bereit erklärte, im Asyl zu helfen, bedankte sich Captain Florence geradezu überschwänglich, als hätte Celia ihr einen unfassbaren Gefallen getan. Sie griff sich theatralisch an die Brust und seufzte tief, bevor sie Celia einen Kuss auf die Wange gab, guten Appetit wünschte und sich abwandte.

Celia schaute dem Captain etwas irritiert hinterher und ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie gerade einem eingeübten Schauspiel beigewohnt hatte.

»Wunder dich nicht!«, sagte eine etwa zwanzigjährige Frau auf der anderen Seite des Tisches. »Die ist immer so.«

Celia erkannte die heisere Stimme und fragte: »Du bist Heather, stimmt’s?«

»Woher weißt du das?«

»Du hast mich letzte Nacht aus dem Bett verjagt.«

»So, hab ich das?« Die junge Frau lachte und fuhr sich durch die langen dunkelblonden Haare, die ihr in fettigen Strähnen auf den Rücken fielen. »Kann mich nicht erinnern. Hab ein wenig über den Durst getrunken. Die alte Esther wollte mich erst gar nicht ins Haus lassen. Alte Zimtzicke!«

»Ich dachte, Alkohol ist im Heim verboten.«

»Hab ja nicht hier drinnen gesoffen«, rief Heather fröhlich, schnalzte mit der Zunge und reichte Celia die Hand. »Du willst hoffentlich keine von den Überkandidelten werden?«

Celia schüttelte die Hand und fragte: »Wen meinst du?«

»Na, die Betschwestern hier.« Sie deutete auf die Handvoll Salutistinnen, die zwischen den vollbesetzten Tischen hin und her liefen oder am Herd den Haferbrei und die warme Milch austeilten. »Haben sie dich schon geködert? Pass bloß auf! Ehe du dich versiehst, bist du eine von ihnen, schlägst die Trommel und singst fromme Kriegslieder, während du durch die Straßen marschierst.«

Celia hob die Achseln und fragte: »Warum bist du hier, wenn’s dir nicht gefällt?«

»Ist immer noch besser, als auf der Straße zu schlafen«, antwortete Heather und schob die Unterlippe vor. »Aber in die bescheuerte Heilsarmee kriegen mich keine zehn Pferde. Da können sie Suppe ausschenken, so viel sie wollen.«

»Jetzt tu mal nicht so dicke«, mischte sich eine ältere Frau neben ihr ein. Sie wandte sich an Celia, wies dabei aber mit dem Löffel auf Heather. »Unsere feine Heather hier hat früher die Beine breit gemacht, nur um irgendwo schlafen zu können oder ein Stück Brot zu bekommen, und jetzt sitzt sie auf’m hohen Ross und rümpft die Nase, als wär sie was Besseres!«

»Wer sagt denn, dass ich’s nicht immer noch mache?«

»Was?«, fragte die Frau.

»Die Beine breit«, rief Heather und lachte anzüglich. »Wenn’s juckt, soll man sich kratzen. Oder kratzen lassen.«

»Du solltest dich schämen!«, sagte die Frau, nahm ihre leere Schüssel, stand auf und ging fort.

»Blöde Kuh!«, schimpfte Heather leise und zog eine Grimasse. Dann wandte sie sich an Celia und fragte: »Was machst du hier? Bist nicht aus London, oder?«

»Du etwa?«, antwortete Celia mit einer Gegenfrage. Der Aussprache nach zu urteilen, kam Heather aus dem Norden Englands. Celia war überhaupt aufgefallen, dass im East End lauter Einwanderer und Zugezogene zu wohnen schienen. Auch in dieser Küche, in der etwa dreißig Frauen frühstückten und sich schmatzend unterhielten, war eine Vielzahl von englischen Dialekten, ausländischen Akzenten und ungewöhnlichen Sprachfärbungen zu hören. Vor allem Irinnen waren zahlreich vertreten.

»Suchst du Arbeit?«, wollte Heather wissen und hob das Kinn. »Kannste vergessen. Von dem Hungerlohn, der hier gezahlt wird, kann kein Mensch leben. Außer man macht zusätzlich die Beine breit.«

»Ich suche meinen Vater«, antwortete Celia und starrte auf ihren Teller.

»Ach, wie niedlich«, mokierte sich Heather. »Papas Liebling, was?«

Celia zuckte wie unter einem Nadelstich zusammen. Sie wollte etwas erwidern, doch dann wurde ihr klar, dass Heather es nur darauf abgesehen hatte, sie zu provozieren oder lächerlich zu machen. Darum hielt sie den Mund, schlug die Augen nieder und machte es der älteren Frau nach: Sie stand auf und verließ grußlos den Tisch.