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»Meredith ist vermutlich bereits wieder auf dem Weg nach Bury Hill«, sagte William und wiegte nachdenklich den Kopf. »Wenn du Barclays Telegramm heute Morgen vor deiner Abfahrt erhalten hättest und in London geblieben wärst, wäre vermutlich nichts von dem Skandal ans Tageslicht gekommen.«

»Arme Meredith«, sagte ich und kramte nun doch eine Zigarette aus dem Etui.

»Bist du noch bei Trost?«, brach es aus Mortimer hervor; er merkte vor lauter Entrüstung nicht, dass ihm Zigarrenasche auf die Hosenbeine fiel. »Du hast doch nicht etwa Mitleid mit ihr?«

»Der Vertrag mit Barclay und Perkins ist natürlich hinfällig«, konstatierte mein Vater kopfschüttelnd. »Ebenso die Hochzeit und alle weiteren Pläne! Dafür sollen sie sich einen anderen Dummen suchen.«

»Warum?«, fragte ich und zündete mir die Zigarette an. »Es ist ja im Grunde nichts geschehen. Meredith ist nach wie vor zu haben, und reich sind die Barclays schließlich immer noch. Ist doch ein gutes Geschäft, oder?«

»Nichts geschehen?«, empörte sich mein Vater und baute sich vor mir auf. »Hast du den Verstand verloren, Junge? Wie kannst du denn jetzt ans Geschäft denken? Hast du denn gar kein Ehrgefühl? Deine Braut ist die Geliebte eines anderen Mannes! Eine verdammte Hure!«

»Wenn du meinst«, sagte ich und zog das Foto aus dem Papierumschlag.

»Darüber kann es überhaupt keine zwei Meinungen geben!«, brüllte mein Vater und starrte blinzelnd auf das Bild. »Was hast du da?«

Ich hielt das Foto ins Licht und sagte: »Die Geliebte eines Mannes. Eine verdammte Hure, sollte ich wahrscheinlich sagen. So hast du dich doch gerade ausgedrückt, oder?«

»Was meinst du?« Er fingerte seine Brille aus der Brusttasche, setzte sie umständlich auf, nahm mir das Bild aus der Hand und riss im gleichen Moment die Augen auf. »Woher hast du das?«, keuchte er und musste sich setzen.

»Wovon redet ihr beiden?«, wollte Mortimer wissen und erhob sich.

»Ja. Was ist das für ein Foto?«, fragte William und stand ebenfalls auf. Er schaute unserem Vater über die Schulter und sagte: »Kommt mir irgendwie bekannt vor. Wer ist diese Frau?«

»Ihr Name ist Mary Brooks«, antwortete ich. »Damals hieß sie noch Tremain. Ihr Porträt hing bis vor einigen Tagen in Vaters Büro.«

»Richtig«, sagte William verdutzt und runzelte die Stirn. »Sieht ihr ähnlich. Hübsche Person!«

»Ich verstehe kein Wort«, schnaubte Mortimer.

»Hat Webster dir das Foto gegeben?«, fragte Vater atemlos und stierte unablässig auf das Bild. »Was will er damit bezwecken?«

»Kann mir mal einer erklären, was hier los ist?«, rief Mortimer aufgebracht.

»Welcher Webster?«, fragte ich.

»Rodney Webster«, sagte mein Vater, senkte den Blick und gab mir das Foto zurück. »Der Wirt vom George Inn in Southwark. Die Schänke hat uns bis vor ein paar Jahren gehört. Ich hab sie an Barclay und Perkins verkauft, um das Geld für das Crown Hotel aufzubringen.«

Allmählich begann ich, die Zusammenhänge zu begreifen. Das Gemälde der weiß gekleideten Hirtin war kurz nach dem Tod unserer Mutter aufgetaucht, etwa zu der gleichen Zeit, als unser Vater die unrentablen Gasthäuser in Southwark an die Barclay-Brauerei verkauft hatte. Und vermutlich bestand hier nicht nur eine zeitliche Verbindung. Ich hielt Vater das Foto direkt vor die Nase und fragte: »Hat sie für Webster gearbeitet? Im George Inn? Habt ihr euch dort kennengelernt? Damals in den Sechzigern?«

Er seufzte tief und nickte.

»Versteh ich das jetzt richtig?«, lachte William und verschluckte sich am Zigarrenrauch. »Vater hatte eine Geliebte? Vor vielen Jahren?« Er schüttelte belustigt den Kopf, deutete auf das Foto und fragte spöttisch: »Deswegen das ganze Theater? Weil Vater vor Urzeiten etwas mit einem verdammten Schankmädchen hatte? Mensch, Rup, jetzt krieg dich wieder ein, und spiel hier nicht den Moralapostel!«

»Die Moral kann mir gestohlen bleiben«, antwortete ich. »Ich will auch kein Theater machen, sondern die Wahrheit hören.«

»Wen interessiert die schon?«, rief William und stieß eine Rauchwolke aus. »Wahrheit ist nichts weiter als eine schlecht getarnte Lüge. Na und? Wen kümmert’s?«

»Können wir jetzt bitte wieder zum eigentlichen Thema kommen?«, knurrte Mortimer und wedelte entnervt mit den Armen. Er schnaufte abfällig und warf seine Zigarre ärgerlich in einen Aschenbecher. »Wir haben wirklich Wichtigeres zu besprechen.«

»War sie das?«, wandte ich mich, ohne die Einwände meines Bruders zu beachten, an meinen Vater, der die ganze Zeit schweigend und mit gesenktem Blick dagesessen hatte. »Irgendein verdammtes Schankmädchen? Eine Lappalie?«

»Ich habe heute Morgen an ihrem Grab gestanden«, stieß er mühsam hervor, und als er aufblickte, sah ich Tränen in seinen Augen. »Und am Grab eures Bruders.«

»Unseres Bruders?«, rief ich erschrocken. »Es gab ein Kind?«

»Sie haben ihn George genannt«, antwortete er und nickte. »Er hat den Tag seiner Geburt nicht überlebt, wie ich heute in der Pfarrei erfahren habe. Er liegt neben seiner Mutter begraben.«

»Das will ich nicht hören!«, rief Mortimer wütend und wandte sich ab. »Das geht mich nichts an. Lasst mich damit in Frieden!« Er hielt sich wie ein kleines Kind die Ohren zu, um nichts mehr hören zu müssen.

»Was soll der Unfug?«, fauchte William und riss mir das Bild aus der Hand. »Wem willst du damit etwas beweisen, Rup? Und zu welchem Zweck? Nur weil du plötzlich vom Saulus zum Paulus geworden bist, brauchst du dich hier nicht so aufzuspielen! Du machst dich lächerlich, Bruderherz! Das sind doch alles alte Geschichten, die heute niemanden mehr interessieren.«

»Lass ihn, William!«, sagte unser Vater und nahm das Foto wieder an sich. »Er hat ja recht!« Dann sprang er plötzlich auf die Beine, kam mir ganz nahe und legte mir die Hand auf die Schulter. »Komm, Junge!«, raunte er mir zu und schob mich zur Tür. »Wir gehen!«

»Wohin?«, wollte ich wissen.

»Zum George Inn!«

»Ohne mich!«, riefen Mortimer und William wie aus einem Mund.

Mein Vater sah mich fragend an, und ich antwortete: »Gerne. Gehen wir!«

6

Auf dem Weg nach Southwark berichtete ich meinem Vater, wie ich in den Besitz der Fotografie gelangt war und was es mit der erkrankten Celia Brooks und dem Hirtengemälde von Simeon Solomon auf sich hatte. Es war offenkundig, dass er von dem Maler noch nichts gehört hatte und ihm nie persönlich begegnet war. Er bat mich, alles genau zu erzählen. Immer wieder fragte er nach, wenn ihm etwas unklar erschien, doch er selbst gab keinerlei Erklärungen ab und vertröstete mich auf später. Es kam mir beinahe so vor, als bräuchte er das George Inn, um sich an das Vergangene zu erinnern. Als benötigte er einen Ortswechsel für die Zeitreise, der er sich stellen wollte.

Während wir in einem der Cabriolets des Hotels über das Victoria Embankment und durch den von der Themse aufsteigenden Nebel fuhren, starrte er unentwegt auf das Foto, das inzwischen vom Schweiß seiner Hände ganz wellig geworden war. Er atmete schwer und stieß in unregelmäßigen Abständen Seufzer aus.

»Du warst heute in Brightlingsea?«, unternahm ich einen erneuten Versuch, ihn zum Reden zu bewegen. »Warum?« Da er nicht antwortete, setzte ich hinzu: »Warst du zum ersten Mal dort?«

Er nickte und sagte: »Zu spät. Viel zu spät.«

»Du wusstest nicht, dass das Kind gestorben ist?«

»Ich wollte es nicht wissen.«

»Und die Mutter?«

»Ich habe mich grausam an ihr versündigt.« Plötzlich schaute er mich an und rief regelrecht entsetzt: »Kannst du dir vorstellen, dass ich sie zwischendurch völlig vergessen hatte? Als hätte es sie nie gegeben. Wie ausradiert.«

»Die Tochter sieht ihr zum Verwechseln ähnlich«, sagte ich, ohne recht zu wissen, wieso. »Wie Zwillinge.«