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»Ja, das sagtest du bereits«, erwiderte er steif, gab mir das Foto zurück und befahl dem Kutscher, auf der Blackfriars Bridge die Themse zu überqueren und anschließend auf der Southwark Street nach Osten zu fahren. Auf diese Weise machten wir einen großen Bogen um die Barclay-Brauerei, an der wir sonst unweigerlich vorbeigefahren wären. Links und rechts der erst vor einigen Jahren gebauten Durchgangsstraße befanden sich riesige Fabriken und Lagerhallen. Die Menier Schokoladenfabrik zur Rechten, Potts’ Essigbrauerei zur Linken und die Hopfen-und Malzbörse am Ende der Straße. Eine seltsame Mischung unterschiedlichster Gerüche lag in der feuchten Luft.

Unter einer Eisenbahnbrücke, kurz bevor die Southwark Street auf die High Street stieß, ließ Vater den Kutscher anhalten und stieg aus. »Damals sah das alles ganz anders aus«, sagte er und drehte sich einmal um die eigene Achse. »Nicht diese steinernen Kolosse überall.«

Ohne darauf zu achten, ob ich ihm folgte, überquerte er die Hauptstraße und ging direkt auf den Eingang des George Inn zu. Diesmal stand keine Kapelle der Heilsarmee vor der schmalen Hofeinfahrt, sondern ein in Lumpen gekleideter Drehorgelspieler mit einem Kapuzineräffchen auf der Schulter, das die quäkenden Töne der Orgel mit ulkigen Mätzchen begleitete.

Vater betrat den düsteren Hof und zögerte plötzlich. Sein Blick ging zwischen der Schänke im hinteren Teil und den Gastzimmern im vorderen Teil des Gebäudes hin und her. Während der Schankraum erleuchtet war und von dort einzelne Stimmen auf den Hof drangen, lagen die Zimmer hinter den Galerien völlig im Dunkeln. Keine Menschenseele war in der Herberge oder an den hölzernen Balustraden zu sehen. Die einstige Postkutschenstation diente offenbar nur noch als Kneipe, Übernachtungsgäste schienen hier kaum einzukehren.

Statt die Schänke zu betreten, ging mein Vater zum Kopfende des u-förmig bebauten Hofes. Dort befanden sich eine Remise, mehrere Stallungen und ein kleines einstöckiges Fachwerkhäuschen, das womöglich einmal als Gesindehaus genutzt worden war. Keines der Gebäude schien noch in Verwendung zu sein, die Mauern bröckelten und verfielen, die Türen und Fenster saßen schief in den Angeln oder fehlten, die Schindeldächer waren schadhaft. Lediglich der Pferdestall auf der linken Seite und ein gemauerter Schweinekoben in der Ecke wurden noch benutzt. Das gesamte Anwesen machte einen verfallenen Eindruck.

»Hier hat sie gewohnt«, sagte mein Vater und deutete auf das leer stehende Häuschen, das durch eine Art Windfang mit der rückwärtigen Küche des Gasthauses verbunden war. »Scheint verlassen zu sein«, setzte er hinzu, nachdem er durch eine zerborstene Scheibe ins Innere geschaut hatte.

»Das George Inn hat schon bessere Zeiten erlebt«, sagte ich und hielt meinem Vater die Tür zur Schänke auf. »Lass uns hineingehen! Mir wird kalt.«

»Deswegen habe ich es ja verkauft«, antwortete er und nahm beim Eintreten den Zylinder ab, mit dem er sonst an die niedrige Decke gestoßen wäre. »Früher war Southwark das Tor nach London, überall gab es Kutschstationen und Gasthäuser für Reisende. Heute findet man in den Schänken nur noch Fabrikarbeiter, Sozialisten und Gesindel, das billiges Bier trinkt. Sehr zur Freude von Leuten wie Mr. Barclay.«

Als wollten sie seine Worte bestätigen, wankten in diesem Augenblick zwei betrunkene Seeleute dem Ausgang entgegen, beäugten mich und vor allem meinen Vater mit stierem Blick und lallten: »Na, Squire, haste dich verlaufen?«

»Benehmt euch, Jungs!«, rief der Wirt aus dem Hintergrund und wedelte mit einem Tuch über einen Tisch neben dem steinernen Kaminofen. »Wir schließen gleich, meine Herren«, sagte er, schob uns die Stühle zurecht und stellte eine kleine Petroleumlampe auf den Tisch, die er von einer Halterung an der Wand genommen hatte. »Aber für ein letztes Getränk reicht’s noch. Womit kann ich dienen, Sirs?«

Bei dem jungen Mann handelte es sich um den dürren Kerl mit den abstehenden Ohren, der vor einigen Tagen hinter dem Schanktisch gestanden und sich mit Bruder Adam, dem hitzköpfigen Heilsarmisten, unterhalten hatte. Er schickte den immer noch feixenden Seemännern einen bösen Blick nach und sagte dann mit einem Bückling: »Die Küche ist leider schon kalt.«

Ich bestellte ein Porter und fragte: »Ist Mr. Rodney Webster zu sprechen?«

»Steht vor Ihnen, Sir«, antwortete er und verneigte sich erneut.

»Gibt es noch einen älteren Verwandten mit dem Namen?«, wollte ich wissen und schaute fragend zu meinem Vater, der seit dem Betreten der Kneipe wie versteinert wirkte und keinen Ton herausbrachte.

»Mein Vater«, erwiderte der Wirt und hob bedauernd die Achseln. »Aber er ist vor zwei Jahren gestorben. Vielleicht kann ich Ihnen helfen?«

»Kaum anzunehmen«, antwortete ich und schüttelte den Kopf. »Danke.«

»Zu Diensten«, sagte der Wirt, hob neugierig die Augenbrauen und wandte sich an meinen Vater: »Und für Sie, Sir? Auch ein Porter? Barclay’s Stout vielleicht?«

»Grog«, sagte mein Vater.

»Grog?«, wunderte ich mich. »Seit wann trinkst du Grog?«

»Mit Zucker?«, fragte der Wirt.

»Und Zimt«, antwortete mein Vater. »Und etwas Muskatnuss.«

»Oho!«, rief Webster erfreut. »Wie die guten alten Piraten der Karibik. Süß und stark. Wird hier nicht oft getrunken. Sind Sie Seemann?«

Vater ignorierte ihn, als wäre er eine Fliege an der Wand, und sagte in meine Richtung: »Mary hat das gern getrunken. Sie nannte es Bumbo oder so ähnlich. Hab sie oft deswegen belächelt.«

Ich wartete, bis der Wirt hinter seinem Schanktisch verschwunden war, wo ein letzter verbliebener Gast mit glasigen Augen auf sein halbleeres Bierglas starrte. Dann fragte ich: »Hat sie als Schankmädchen gearbeitet?«

»Als ich sie kennenlernte, war sie ein Pot-Girl«, antwortete er lächelnd. »So nannte man damals die Mädchen, die die Bierkrüge und Teller einsammelten. Später hat sie auch hinter der Theke gearbeitet und die Gäste bedient. Rodney Webster war schließlich kein Dummkopf. Ein gerissener Bursche, aber sicherlich nicht dumm.«

»Das können Sie laut sagen«, rief Webster junior, der unbemerkt wieder an unseren Tisch getreten war und mir nun das Bier vor die Nase stellte. »Gerissen trifft’s genau, Sir. Andere nannten ihn auch einen ausgemachten Halunken.« Er lachte und setzte hinzu: »Der Grog kommt sofort. Muss erst noch das Wasser heiß machen.«

»Was meinst du damit?«, fragte ich meinen Vater, ohne auf den Wirt zu achten, der tatsächlich etwas von einer lästigen Stubenfliege hatte.

»Du hast das Foto gesehen«, antwortete er und holte eine Zigarre aus der Innentasche seines Mantels. »Es gab nicht wenige Männer, die nur ihretwegen in die Kneipe kamen. Wie Eisenspäne zum Magneten. Obwohl sie es gar nicht darauf angelegt hatte.«

»So ein magnetisches Schankmädchen könnte ich auch gebrauchen«, sagte Webster grinsend. Er nahm den Glaszylinder von der Lampe, hielt meinem Vater den brennenden Docht vor die Zigarrenspitze und fragte: »Wie war doch gleich der Name? Mary?«

»Wollten Sie nicht Wasser heiß machen?«, fragte ich ihn in einem wenig freundlichen Ton.

»Bin schon weg«, antwortete er, stellte die Lampe ab und hob abwehrend die Hände. »Will mich ja nicht einmischen. Käme mir gar nicht in den Sinn.«

»Wann war das?«, fragte ich meinen Vater, nachdem Webster in der Küche verschwunden war.

»Im Frühjahr 1867«, antwortete er und starrte auf seine qualmende Zigarrenspitze, um mir nicht ins Gesicht schauen zu müssen. »Am 24. Mai.«

»Das weißt du noch so genau?«, wunderte ich mich, überlegte einen Moment und begriff dann. »Der Geburtstag der Königin. Du hast sie bei einer Feier im George kennengelernt?«

Er nickte, stieß eine Rauchwolke aus und schaute ihr versonnen nach. »Den Tag werde ich nie vergessen. Ich war eigentlich nur hier, um nach dem Rechten zu schauen und weil Webster mit der Pacht in Rückstand war. Wie beinahe immer. Und dann habe ich sie gesehen, dort drüben neben dem Schanktisch. Mary war einfach bezaubernd. Ich habe mich vom Fleck weg in sie verliebt, wie ein grüner Jüngling, dabei war ich damals schon fast vierzig Jahre alt. Und nicht nur ich hab mich in sie verguckt. Webster war auch hinter ihr her, das hat Mary mir später erzählt. Hat sie ständig bedrängt und konnte die Hände nicht von ihr lassen. Bis ich ihm auf seine schmierigen Finger gehauen habe. Und natürlich dieser junge Seemann aus Essex, Brooks. Wir waren alle wie von Sinnen.« Er unterbrach sich und setzte dann kopfschüttelnd hinzu: »Keine Ahnung, was damals in mich gefahren ist. Es klingt kindisch, und ich weiß, dass das keine Entschuldigung ist, aber Mary hat mich vom ersten Augenblick an wie behext.«