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»Du musst dich nicht entschuldigen«, antwortete ich und nippte an meinem Bier. Mir meinen Vater als verliebten Galan vorzustellen, fiel mir nicht leicht. Bislang hatte ich immer gedacht, die einzigen Gefühle, die er aufbringen könnte, gälten seinen Hotels und Bankkonten. Leise setzte ich hinzu: »Jedenfalls musst du dich nicht bei mir entschuldigen.«

»Bei wem dann?«, sagte er seufzend. »Bei deiner Mutter? Bei Mary? Bei dem kleinen George? Sie sind alle tot und begraben. Und du hast William und Mortimer gehört. Sie halten die ganze Geschichte für lächerlich, nicht der Rede wert. Wen kümmert’s also?«

»Dich scheint es zu kümmern«, sagte ich und schüttelte mich, weil das Bier schal und abgestanden schmeckte. »Und das nach all der Zeit.«

»Ja, seltsam, nicht wahr?«, antwortete er und starrte wie durch mich hindurch. »Ich werde nächstes Jahr sechzig Jahre alt und habe eine Menge in meinem Leben erreicht. Könnte eigentlich stolz darauf sein. Aber was ich stattdessen sehe, sind zwei Frauen. Die eine habe ich geheiratet, obwohl ich nicht das Geringste für sie empfunden habe, und die andere habe ich geliebt und dadurch ins Unglück gestürzt. Seitdem du mir am Montag von diesem Mädchen erzählt hast …«

»Celia«, half ich ihm auf die Sprünge. »Sie heißt Celia. Du solltest dir angewöhnen, die Menschen beim Namen zu nennen, Vater. Die Menschen und die Dinge.«

»Hast ja recht, Junge.«

»Mein Name ist Rupert!«

»Rupert«, verbesserte er sich. »Seitdem du mir von Celia Brooks erzählt hast, ist alles wieder in mir hochgestiegen, was ich längst vergessen hatte. Plötzlich ist alles wieder da, als wäre es gerade erst geschehen. Und ich komme mir genauso elend vor wie damals, als ich Mary so schändlich verraten habe. Ich war ein Feigling und Lügner, und daran hat sich nicht viel geändert. Ich komme mir immer noch schäbig vor.«

Noch nie hatte ich meinen Vater derart zerknirscht und bedrückt erlebt. Nichts war von seiner sonstigen Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit geblieben. Und mir ging im gleichen Augenblick auf, dass dies das erste wirkliche Gespräch zwischen uns war. Zum ersten Mal redete er mit mir nicht wie mit einem Untergebenen oder Befehlsempfänger. Und zum ersten Mal sah ich in ihm nicht nur den selbstherrlichen Patriarchen, den ich zwar fürchtete, aber nicht achtete. Die tadellose Fassade des Harvey Ingram bröckelte, und mit den Makeln und Fehlern kam ein verwundbarer Mensch zum Vorschein.

»Warst du deshalb in Essex?«, fragte ich. »Um kein Feigling mehr zu sein?«

»Mag sein«, sagte er und schnaufte abfällig. »Aber alles, was ich in Brightlingsea gefunden habe, waren zwei Gräber auf einem Friedhof. Das eine neu, das andere verwittert. Und eine verlassene Wohnung unter Quarantäne.«

»Quarantäne?«, staunte ich. »Wieso?«

»Mary ist am Typhus gestorben. Das haben mir die Nachbarn erzählt. Der Arzt hat letzte Woche die Wohnung versiegelt, und seitdem ist Celia Brooks verschwunden. Genauso plötzlich wie ihr Vater Jahre zuvor.«

»Bumbo!« Wie aus dem Nichts war der Wirt wieder an unserem Tisch erschienen und stellte eine dampfende Tasse auf die Holzplatte. »Süß und stark. Wohl bekomm’s, Mr. Ingram!«

»Sie kennen mich?«, wunderte sich mein Vater.

»Selbstverständlich«, antwortete Webster und grinste. »Ich war damals zwar noch ein Kind, aber ich erinnere mich natürlich, dass Ihnen früher das George gehört hat. Einmal war ich sogar bei Ihnen im Hatchett’s Hotel.«

»Tatsächlich?«

»Ja, ist schon ein paar Jahre her, kurz nachdem die Brauerei das Inn gekauft hat«, sagte Webster und schob die Unterlippe vor, um seine Worte zu unterstreichen. »Es war wegen irgendeinem Gemälde. Hab’s in so ’nem Atelier in der City abgeholt und zur Piccadilly gebracht. Kann mich noch erinnern, dass es ein saftiges Trinkgeld gab.«

»Der Kobold!«, entfuhr es mir leise. Ich dachte an Simeons Beschreibung des Laufburschen, der das fertige Gemälde abgeholt hatte. Der hässlichste Junge, den er je gesehen hatte: spindeldürr und Ohren wie ein Elefant.

»Entschuldigung?«, erkundigte sich Webster. »Was meinten Sie?«

»Nichts«, antwortete ich und räusperte mich verlegen. »Ich musste nur gerade an etwas denken. Danke, Mr. Webster.«

Der Wirt nickte mir zu, wandte sich dann um und verschwand hinter seinem Schanktisch, wo der letzte Gast inzwischen mit dem Gesicht auf der Tischplatte eingeschlafen war.

»Was hat das mit dem Gemälde und dem Foto auf sich?«, fragte ich meinen Vater, der an dem Grog nippte und angewidert das Gesicht verzog.

»Das ist eine etwas verworrene Angelegenheit«, antwortete er ausweichend und pustete in die Tasse, dass seine Brillengläser beschlugen. »Womit soll ich anfangen? Ich hoffe, du willst keine Einzelheiten über unsere Liebschaft hören.«

»Nein«, sagte ich und merkte, wie mir ein Schauder über den Rücken fuhr. Ich wollte nicht wissen, wie und wo und wie oft mein Vater es mit seiner Geliebten getrieben hatte. Schon die Vorstellung grauste mich. »Erzähl von dem Foto!«, bat ich und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie der Wirt den Schlafenden am Kragen packte und heftig schüttelte.

»Das war Marys Idee«, antwortete mein Vater und lächelte nachdenklich. »Sie wollte unbedingt ein Foto von uns. So eine bunt gerahmte Kabinettkarte, die damals ganz modern und schick war. Damit wir beieinander wären, auch wenn wir nicht zusammen sein könnten. So ähnlich hat sie sich ausgedrückt. Sie konnte sehr romantisch sein. Ich war von der Idee natürlich nicht so begeistert.«

»Warum nicht?«

»Weil …« Er sah mich erstaunt an und meinte: »Ein Foto von uns beiden zusammen? Wenn das in die falschen Hände geraten wäre. Wie hätte das denn ausgesehen? Wie hätte ich das erklären sollen?«

»Verstehe«, antwortete ich.

»Ich habe schließlich vorgeschlagen, zwei Fotos machen zu lassen«, fuhr er fort. »Eines von mir für sie und eines von ihr für mich. Das war zwar nicht ganz das, was ihr vorgeschwebt hatte, aber sie hat sich damit zufriedengegeben. Also haben wir es so gemacht.«

Ich nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. »Aber wieso hatte Celia dann das Foto ihrer Mutter bei sich? Und wo ist das andere Bild? Das Foto von dir?«

»Woher sie das Foto hat, kann ich nur vermuten«, antwortete mein Vater und schnupperte an seinem Grog, als hälfe ihm der Geruch, sich zu erinnern. »Aber das Foto von mir hat Mary verbrannt. Vor meinen Augen. Ich sagte ja, es ist eine verworrene Geschichte. Und eine äußerst unschöne.«

»Wie lange wart ihr zusammen?«, fragte ich und sah, wie der Wirt den taumelnden Gast am Schlafittchen packte und aus der Schankstube zerrte. In unsere Richtung rief er: »Ist gleich Feierabend, die Herren!«

»Etwa ein Dreivierteljahr«, sagte Vater, schob die Tasse von sich und saugte stattdessen an seiner Zigarre. »Anfang des Jahres stellte sich heraus, dass Mary in anderen … also, dass sie … du weißt schon.«

»Ein Kind von dir erwartete«, sagte ich.

»Nicht nur das«, antwortete er und stieß unwirsch den Rauch zur Decke. »Sie erwartete auch, dass ich mich um sie und das Kind kümmerte. Und zwar nicht nur finanziell. Sie wollte, dass ich ihr eine Wohnung in meiner Nähe besorge und das Kind anerkenne. Das war natürlich ganz undenkbar.«