»Natürlich«, murmelte ich missbilligend.
»Ja, natürlich!«, beharrte er und schaute mich befremdet an. »Wie hätte das denn gehen sollen? Was glaubst du, was das für einen Skandal gegeben hätte. Ich war schließlich verheiratet und hatte drei kleine Kinder!«
»Das hat dich nicht davon abgehalten, etwas mit einem Schankmädchen anzufangen«, konterte ich und hielt seinem bohrenden Blick stand.
»Ja, ich weiß. Aber das uneheliche Kind anerkennen?«, antwortete er und senkte den Blick. »Unmöglich! Ich weiß nicht, wie Mary auf diese verrückte Idee kam.«
»Glaubst du, sie wollte ihr Leben lang als Magd in Southwark arbeiten und gleichzeitig die Geliebte eines Gentlemans aus dem West End sein?«
»Ich habe ihr nie irgendwelche Versprechungen gemacht!«, platzte es aus ihm heraus. »Und wenn auch; man darf doch nicht jedes Wort gleich auf die Goldwaage legen!«
Ich unterdrückte einen Kommentar, der womöglich zu harsch ausgefallen wäre, doch mein Vater schien an meinem Blick ablesen zu können, was mir auf den Lippen lag. Er starrte auf seine Finger und murmelte: »Ich wollte, dass es wieder so wird wie zu Beginn, fröhlich und unbeschwert. Ich wollte, dass das Kind …« Er holte tief Luft und sagte dann leise: »Im Club hatte ich von einer Frau gehört, die einigen befreundeten Mitgliedern in vergleichbaren Fällen aus der Patsche geholfen hatte. Eine ehemalige Krankenschwester mit viel Erfahrung auf dem Gebiet, aber davon wollte Mary nichts hören.«
»Eine Engelmacherin?«, rief ich.
»Nicht so laut, Rupert!«, sagte er und schaute besorgt zum Eingang, wo der Wirt dabei war, die Tür zu schließen, einen Holzriegel vorzulegen und die Lampe neben dem Eingang zu löschen. »Mary wollte das Kind unbedingt haben, es war ihr einfach nicht auszureden. Sie konnte fürchterlich eigensinnig sein. Und als sie schwanger war, wurde es immer schlimmer mit ihr. Man konnte einfach nicht mehr vernünftig mit ihr reden. Mir blieb gar keine andere Wahl.«
»Also hast du sie zum Teufel gejagt.«
»Zum Teufel?« Er nahm die Brille ab und rieb sich über die Nasenwurzel. »Das nun nicht, aber es stimmt, ich wollte sie loswerden. Weit weg, irgendwohin, wo sie keinen Schaden anrichten konnte. Ich wusste nicht mehr weiter. Es war alles außer Kontrolle geraten.«
»Und wie kam dieser Brooks ins Spiel?«
»Das war Websters Idee«, antwortete er achselzuckend. »Brooks war ein junger Seemann oder Hafenarbeiter, der seit Monaten jeden Abend in die Schänke kam, um Mary anzuhimmeln. Sie hat nur darüber gelächelt und sich über seine Avancen lustig gemacht, doch das hat den Kerl nicht davon abgehalten, sie mit großen Augen anzuschmachten. Er war ähnlich behext, wie ich es am Anfang gewesen war. Völlig verrückt nach ihr.«
»Verrückt genug, das Kind eines anderen als das eigene anzuerkennen?«, wunderte ich mich. »Und die Geliebte eines anderen zu heiraten?«
»Ich habe mit einer üppigen Belohnung nachgeholfen«, sagte er und mied meinen Blick. »Aber ich glaube, er hätte Mary auch ohne das Geld geheiratet.«
»Du hast sie verschachert?«
»Verschachert?!« Vater schaute mich erschrocken an, doch dann nickte er. »Ja, so kann man es sehen. Ich habe mich freigekauft.«
»Wieso hat Mary sich darauf eingelassen?«
»Was blieb ihr anderes übrig?«, antwortete er. »Ich hatte sie im Stich gelassen und ihr klargemacht, dass ich das Kind niemals anerkennen würde. Auf mich konnte sie nicht zählen. Und Webster hat gedroht, sie auf die Straße zu setzen, wenn sie nicht mit Brooks nach Essex ginge. Ein schwangeres Schankmädchen konnte er nicht gebrauchen, sonst hätte es nachher noch geheißen, er hätte sie geschwängert. Webster war in alles eingeweiht und hat das Ganze eingefädelt.«
»Gegen eine üppige Belohnung?«, vermutete ich.
Wieder nickte er und sagte: »Die Geschichte hat mich viel Geld gekostet. Ich habe für meine Dummheit eine Menge Lehrgeld gezahlt.«
Vater hatte recht gehabt. Es war eine äußerst unschöne Geschichte. Kein Wunder, dass er sie zwischenzeitlich aus seinem Kopf verbannt hatte. Und dass sie ihm immer noch zu schaffen machte. Harvey Ingram und Rodney Webster hatten auf ganz schmutzige Weise ihre Felle ins Trockene gebracht, wie zwei ausgemachte Halunken!
Wie aufs Stichwort erschien der Sohn des damaligen Wirts an unserem Tisch, griente entschuldigend und sagte: »Es ist bald Mitternacht, die Herren!«
Ich erwies mich als echter Ingram, zog eine Pfundnote aus der Brusttasche und hielt sie Webster vor die Nase: »Den Rest können Sie behalten. Sie haben doch sicherlich noch einiges in der Küche zu erledigen, oder?«
»Gibt immer was zu tun«, sagte der Wirt, machte einen Bückling, steckte das Geld ein und verschwand.
Beim Griff in den Mantel war ich auf das Foto gestoßen, das eingerollt in der Brusttasche steckte, und wandte mich nun wieder meinen Vater zu: »Was war mit dem Gemälde? Wieso hast du das Foto abmalen lassen?«
Er seufzte laut und stieß mühsam hervor: »Eine dumme Laune. Ein Anfall von Sentimentalität. Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht.«
»Du weißt es nicht? Was soll der Unfug?«
Wieder flammte Unmut in ihm auf. Er war wütend auf mich, weil ich all die unangenehmen Fragen stellte, und auf sich selbst, weil er keine schlüssigen Antworten darauf wusste. Er wand sich auf seinem Stuhl, entzündete die erloschene Zigarre an der Lampe und schüttelte immer wieder den Kopf, als wäre er mit dem, was ihm durch den Schädel ging, selbst nicht einverstanden. Dann hielt er plötzlich inne und sagte: »An dem Tag, als sie das George Inn verlassen hat, habe ich Mary ein letztes Mal gesehen. Ich wollte mich von ihr verabschieden und ihr das Foto zurückgeben.«
»Warum?«
Er schaute mich verständnislos an.
»Warum musstest du ihr das Foto zurückgeben? Wieso hast du es nicht einfach in den Müll geworfen? Oder verbrannt?«
Sein konsternierter Blick verriet mir, dass er tatsächlich niemals auf diese Idee gekommen war. Dass es ihm schlichtweg unmöglich gewesen war, das Bild zu zerstören. »Du warst immer noch verrückt nach ihr, nicht wahr?«, vermutete ich. »Das Foto war nur ein Vorwand, sie wiederzusehen.«
Statt auf meine Frage zu antworten, sagte er mit finsterer Miene: »Mich von Mary zu verabschieden, war keine gute Idee. Das hätte ich eigentlich wissen müssen. Sie hat mir das Foto aus der Hand gerissen, es angespuckt und zu Boden geworfen. Dann hat sie das Foto von mir aus dem Koffer geholt und vor meinen Augen verbrannt. Ihren hasserfüllten Blick werde ich niemals vergessen. Sie hat geguckt, als wäre es ihr am liebsten gewesen, wenn ich mit dem Bild verbrannt wäre. Dann ist sie mit dem Koffer in der Hand davongeeilt.«
»Kann ich ihr nicht verdenken«, sagte ich und zog das Foto aus meiner Brusttasche. »Und das Bild von ihr?«
Er zuckte mit den Achseln und sagte: »Als ich ging, lag es auf dem Boden in ihrem Zimmer. Dreckig und bespuckt. Ich hab es liegen lassen.«
Diesmal antwortete ich mit einem verständnislosen Blick.
»Komm!«, rief er plötzlich, schnappte sich die Lampe vom Tisch und stand auf. Er warf den Zigarrenstummel in den Grog und ging zum Ausgang. Statt jedoch die Tür zu entriegeln und nach draußen zu gehen, verschwand er durch eine Pendeltür nach nebenan. Dort befand sich ein schmales Treppenhaus, das die Schankräume mit den Herbergszimmern und den Galerien verband. Ungeduldig rief er mir zu: »Nun mach schon!«
7
Als ich durch die Pendeltür trat, stand mein Vater eine halbe Treppe höher und beleuchtete mit der Petroleumlampe die Wand, an der verschiedene Fotografien und Zeichnungen hingen: Stadtansichten und Karten von Southwark, alte Postkarten des George Inn und gerahmte Miniaturporträts. Den Segelohren und Strubbelhaaren nach zu urteilen, handelte es sich um Mitglieder der Familie Webster.