»Hier habe ich es wiederentdeckt«, sagte mein Vater und deutete mit der Lampe auf ein gerahmtes Flugblatt an der Wand. »Genau an dieser Stelle.«
»Was hast du entdeckt?«
»Das Foto von Mary.«
Ich stellte mich neben meinen Vater, betrachtete das vergilbte und an den Rändern eingerissene Flugblatt und las:
»Spektakulum in der ›Pig & Pox Tavern‹
DER MORD AM OLD BARGE HOUSE
Drama von Raymond Webster«
Das Papier schien alt zu sein. Es pries irgendein Theaterstück an, das in einer Southwarker Kneipe aufgeführt wurde. Weder von dem Stück noch von der Kneipe hatte ich je etwas gehört. Der Name des mir ebenfalls unbekannten Autors stellte allerdings die Verbindung zum heutigen George Inn her.
»Ich verstehe nicht«, sagte ich.
»Genau an der Stelle hing vor acht Jahren das Foto von Mary«, erklärte mein Vater. »Genau hier habe ich es wiedergesehen.«
»Vor acht Jahren?«
»Bei der Begehung der Schänke. Als ich mit Mr. Barclay und den Anwälten im George Inn war, um den Verkauf zu verhandeln«, antwortete er nickend. »Mehr als zehn Jahre hatte ich nicht mehr an das Foto gedacht. Ich hatte es völlig vergessen, wie ich auch Mary aus meinem Gedächtnis gestrichen hatte. Seit ewigen Zeiten war ich nicht mehr in Southwark gewesen. Hab immer einen großen Bogen um das George Inn gemacht und mit Webster nur über Boten oder per Post verkehrt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich war, als die Barclay-Brauerei mit dem Kaufanliegen an mich herantrat.« Wieder ging sein Blick zur Wand. »Und plötzlich hing es da. Rodney Webster scheint es aufgehängt zu haben. Keine Ahnung, warum er das getan hat. Ich hab ja gesagt, dass er selbst auch ein Auge auf Mary geworfen hatte. Wahrscheinlich hat er es im Gesindehaus auf dem Boden gefunden. Ich habe ihn nie danach gefragt.« Er schüttelte den Kopf und setzte atemlos hinzu: »Ich wäre vor Schreck beinahe hintenübergekippt. Es war wie ein Schlag. Plötzlich lächelte Mary mich an, im Treppenhaus des George Inn. Gerahmt an der Wand. Zwischen all den hässlichen Webster-Köpfen.«
»Na, na, Mr. Ingram!«, erklang in diesem Moment die Stimme des Wirts von der Tür. »Kein Grund, gleich ausfallend zu werden. Vergessen Sie nicht, dass Ihnen das George nicht mehr gehört! Auch wenn ich einen hässlichen Webster-Kopf hab, bin ich nach wie vor der Boss hier und lass mich nicht beleidigen!«
Vater reagierte nicht und starrte unbeirrt auf die Wand. Er schien vollständig den eigenen Gedanken nachzuhängen und redete weiter, als spräche er zu sich selbst: »Webster hat sich diebisch gefreut, als er meine Reaktion gesehen hat. Als hätte er das Bild nur aufgehängt, damit ich es irgendwann mal zu Gesicht bekomme. ›Die gute Mary! Ein hübsches Kind‹, hat er gemeint und dreckig gelacht. ›Was wohl aus ihr geworden ist? Und aus dem armen Bastard?‹ Mir war so übel, dass ich mich beinahe übergeben hätte. Webster hat zufrieden gekichert. Und dann wollte er mir das Bild sogar schenken.«
»Aber du wolltest es nicht«, sagte ich und glaubte sogar, den Grund zu verstehen. »Weil sie es bespuckt und zu Boden geworfen hatte. Weil die Erinnerung daran vergällt war.«
»Vielleicht«, seufzte Vater und zuckte mit den Schultern. »Es wäre nicht recht gewesen.«
»Sie reden von dieser Mary Tremain, oder?«, sagte Webster, der immer noch in der Tür stand. »Hab ich mir schon gedacht, als Sie vorhin den Namen Mary erwähnt haben. Tut mir leid, Sir, aber Sie kommen ein paar Tage zu spät. Ich hab das Foto ihrer Tochter Celia gegeben.«
»Sie kennen Celia?«, rief ich und wandte mich erstaunt zu ihm um.
Er grinste anzüglich, zuckte mit den Schultern und fragte: »War diese Mary auf dem Gemälde abgebildet?«
»Der Vorschlag kam von Webster«, antwortete mein Vater, wobei nicht klar war, ob er sich an mich oder den Wirt wandte. »Er meinte, man könnte das Foto abmalen lassen. In Farbe sähe es vermutlich noch schöner aus und wäre nicht so verfänglich wie eine Fotografie. Er hätte von einem Maler gehört, der für ein paar Flaschen Schnaps alles malte, was man wollte, auch schweinischen Kram. Falls mir der Sinn danach wäre. Der Maler wäre mal eine große Nummer in der Kunstakademie gewesen, aber jetzt wäre er froh, wenn er überhaupt irgendwelche Aufträge bekäme. Es hätte da irgendeinen Skandal gegeben.«
»Simeon Solomon«, sagte ich.
»Den Namen des Malers wusste Webster nicht«, antwortete Vater und ging die Stufen hinunter, bis er direkt vor dem Wirt stand. »Er kannte den Mann nur vom Hörensagen.«
»Jetzt versteh ich!«, rief Webster belustigt und grinste schief. »Es war ein Nacktbild! Schade, dass ich’s nie zu Gesicht bekommen habe. War schon eingepackt, als ich’s beim Maler abgeholt hab.«
»Gar nichts verstehen Sie!«, fauchte mein Vater, packte den Wirt an der Krawatte und stieß ihn wütend von sich. »Sie sind ein ebensolcher Widerling wie Ihr Vater!«
»Das sagt ja der Richtige!«, höhnte Webster und rappelte sich auf. »Steigt unschuldigen Schankweibern hinterher, aber mokiert sich darüber, wenn man ihn für einen Lüstling hält!« Er richtete seine Krawatte, baute sich vor meinem Vater auf und deutete zur Tür. »Und jetzt raus hier, Sir! Bevor ich mich vergesse!«
Vater wollte etwas erwidern, doch dann schüttelte er nur den Kopf und wandte sich resigniert dem Ausgang zu.
Während ich ihm nach draußen folgte, rief mir der Wirt nach: »Wenn Sie Celia sehen, Mr. Ingram, dann grüßen Sie sie von Rod Webster. Und falls sie eine Arbeit sucht: Ein magnetisches Schankmädchen kann ich immer gebrauchen.« Er lachte laut und knallte die Tür hinter mir zu.
Mein Vater war bereits auf der Straße und stand mit offenem Mantel und barhäuptig im Nebel, der inzwischen fast wie Watte fühlbar war. Der Drehorgelspieler war verschwunden, nur noch einzelne Fuhrwerke ratterten die High Street entlang, wenige Passanten waren auf dem Gehweg zu sehen. Sie wirkten im Nebel wie Phantome, die plötzlich auftauchten und sofort wieder verschwanden.
»Komm!«, sagte ich zu ihm und reichte ihm den Zylinder, den er im Hof der Schänke verloren hatte. »Die Kutsche bringt dich nach Hause.«
»Das Schlimme ist«, sagte mein Vater abwesend und ließ sich wie ein Kind den Hut aufsetzen. »Der junge Webster hat recht.«
Ich fasste ihn am Ärmel und führte ihn über die Straße, in Richtung Eisenbahnbrücke, wo der Kutscher immer noch auf uns wartete. Nur die beiden Außenlampen der Hotelkutsche waren aus der Entfernung zu sehen.
»Was ich nicht verstehe«, sagte ich und sah meinen Vater von der Seite an. »Warum hast du dieses zuckersüße Bild mit dem weiß gekleideten Hirtenmädchen und dem niedlichen Viehzeug in Auftrag gegeben? Die ganze Szenerie hat nicht das Geringste mit Mary zu tun.«
»Genau das war die Absicht«, antwortete er und gab dem Kutscher, der es sich auf der Rückbank gemütlich gemacht hatte, mit dem Gehstock ein Zeichen. »Erst habe ich Websters Vorschlag für dummes Zeug gehalten und abgelehnt. Ich wollte kein Gemälde von Mary, genauso wie ich das Foto nicht wollte. Doch dann wurde ich den Gedanken einfach nicht mehr los. Es war eine Schnapsidee, aber zugleich sehr verführerisch. Wie ich schon sagte, es war eine dumme Laune. Und deshalb bin ich einige Tage später, nachdem der Verkauf geregelt war, ins George Inn gegangen und habe Webster gebeten, sich darum zu kümmern. Natürlich ohne meinen Namen zu nennen. Ich habe ihm aufgetragen, dass das Bild möglichst unauffällig sein sollte. Nichts Dramatisches, nichts Realistisches, eine harmlose Pastorale eben.«
»Damit du es anschauen und in deinem Büro aufhängen konntest, ohne dich erklären zu müssen«, konstatierte ich.
»Ja, so ist es.« Er hob die Achseln und bestieg die Kutsche. »Komm jetzt, Rupert, es ist spät geworden«, sagte er und reichte mir die Hand.
Ich blieb auf dem Gehweg stehen und schüttelte den Kopf. »Fahr du nur nach Hause, Vater! Ich bleibe noch und vertrete mir ein wenig die Beine.«