»Bei dem Nebel?«
»Nach den ganzen Ereignissen heute schwirrt mir ein wenig der Kopf. Es ist alles so verworren, und es gibt so viel, über das ich nachdenken muss.«
»Das kannst du auch zu Hause tun.«
»Ich werde später nach Hause kommen«, sagte ich. »Aber ich werde nicht mehr lange im Hatchett’s bleiben. Damit hat es ein Ende. Das weißt du, oder?«
»Willst du wieder im Crown wohnen?«, antwortete er überrascht und beugte sich aus der Kutsche. »William wird zwar nicht erfreut darüber sein, aber ich werde das schon mit ihm regeln. Wir können alles so belassen, wie es früher war.«
»Nein«, sagte ich kopfschüttelnd. »Nichts soll so sein wie früher!«
Er nickte und fragte: »Was hast du vor? Wo willst du hin?«
»Genau darüber muss ich mir Gedanken machen«, antwortete ich und klopfte dem Pferd auf die Kruppe. »Gute Nacht, Vater!«
Kurz darauf schlugen die Glocken von St. Saviour zur Mitternacht.
8
Während die Kutsche wendete und nach kurzer Zeit im dichten Nebel verschwand, kam mir plötzlich eine Frage in den Sinn, die ich meinem Vater zu stellen vergessen hatte. Eine Frage, die ich mir selbst zu stellen versagt hatte: Was war mit unserer Mutter? Hatte sie von der Affäre gewusst? Auch von dem illegitimen Bastard, der einen Skandal hätte auslösen können? Und wenn ja, wie hatte sie auf das Liebesabenteuer ihres Mannes reagiert?
Doch so seltsam es mir auch vorkam, die Antworten auf diese Fragen waren mir eigentlich nicht so wichtig. Meine Mutter spielte, so herzlos das auch klingen mochte, in all meinen Überlegungen kaum eine Rolle. Das Schicksal der Mary Tremain, eines mir gänzlich unbekannten Schankmädchens, berührte mich mehr als das Los meiner eigenen Mutter, die von meinem Vater hintergangen worden war. Während ich in Richtung London Bridge ging und man in unmittelbarer Nähe des Flusses kaum noch die Hand vor Augen erkennen konnte, versuchte ich mir zu erklären, warum ich in Bezug auf meine Mutter so gleichgültig war.
Wenn ich an Rhoda Ingram dachte, so sah ich immer ein seltsam konturloses und schemenhaftes Wesen vor mir. Wie ein verwaschenes Aquarell. Das lag sicherlich auch daran, dass sie vor beinahe zehn Jahren an einer Lungenentzündung gestorben und meine Erinnerung im Laufe der Zeit zunehmend verblasst war. Doch es hatte vor allem damit zu tun, dass ich sie in meiner Kindheit nie wirklich als liebende und sorgende Mutter erlebt hatte. Während mein Vater das Geschäftliche regelte und mit strenger Hand das Unternehmen führte, verwaltete meine Mutter ebenso akribisch die Familie, befehligte das Personal und delegierte die entsprechenden Aufgaben. Sowohl mein Vater als auch meine Mutter waren in gewisser Weise immer nur die Verwalter äußerer Abläufe gewesen. Sie hatten dafür gesorgt, dass die Familie und die Firma reibungslos funktionierten. An unser Kindermädchen Susan, an die Klavierlehrerin Mrs. Appleby, an die alte Köchin Brenda, ja sogar an den stocksteifen Portier Bellamy hatte ich innigere und herzlichere Erinnerungen als an meine Eltern.
Ich hatte inzwischen die Themse überquert, doch statt mich nach links zu wenden, um am Nordufer in Richtung Westminster zu gehen, schlug ich aus keinem besonderen Grund die entgegengesetzte Richtung ein. Das Hatchett’s erschien mir im Moment als Ziel nicht besonders erstrebenswert. Ich ging stattdessen am Fischmarkt von Billingsgate vorbei zum Tower Hill und sah das eingerüstete und halbfertige Skelett der neuen Tower Bridge aus dem Nebel ragen. Direkt am Wasser führte ein schmaler Pfad am Tower vorbei bis zu den Docks, die mich immer an ein riesiges Labyrinth erinnerten. Es handelte sich um ein schier endloses Gewimmel aus Lagerhäusern, Kaimauern, ins Wasser ragenden Piers, Lastkränen, Hafenbecken, Wasserstraßen und Zugbrücken, das auf mich wie eine Stadt in der Stadt wirkte.
Während ich ziellos und zunehmend orientierungslos durch die Docks von St. Katherine schlenderte und dabei lediglich darauf achtete, nicht versehentlich in ein Wasserbecken zu stürzen oder gegen einen in der Dunkelheit kaum zu erkennenden Poller zu stoßen, musste ich daran denken, wie behütet und zugleich lieblos meine Kindheit verlaufen war. Jedenfalls was meine Eltern anging. Entsprechend distanziert war mein Verhältnis zu ihnen immer geblieben. Als unser Kindermädchen Susan seinerzeit den Dienst bei der Familie Ingram quittiert hatte, um zu heiraten und fortan eigene Kinder aufzuziehen, hatte ich Rotz und Wasser geheult und mich wie ein Ertrinkender an ihr Kleid geklammert, um sie nicht fortzulassen. Doch als meine Mutter infolge einer Diphtherie mit plötzlich auftretender Lungenentzündung auf dem Sterbebett lag und viel zu früh Abschied von ihrer Familie nehmen musste, hatte ich Mühe, mir eine Träne aus dem Augenwinkel zu quetschen. Ich trauerte um meine Mutter, weil man es von mir als gehorsamem Sohn erwartete, aber ich spürte den Schmerz und Verlust nur gedämpft. Zugleich machte ich mir deshalb böse Vorwürfe, weil ich mich für undankbar hielt. Wenn ich an den Tod meiner Mutter dachte, hatte mich immer ein schlechtes Gewissen geplagt, weil ich so wenig für sie empfunden hatte. Und immer noch empfand.
Die St. Katherine Docks lagen inzwischen hinter mir und die London Docks vor mir, und dazwischen schlängelte sich die Nightingale Lane zwischen den Lagerhäusern hindurch. Rechts führte ein Kanal vom Eingang der Docks bis zur Themse, links ging eine Bahntrasse von den Lagerhäusern für Wolle, Tabak und Tee bis zu den Eisenbahndepots an der Royal Mint Street. Im Schatten des Bahndammes befand sich eine ziemlich schäbige Kneipe, die dem Anschein und Namen nach von Chinesen geführt wurde. Sie nannte sich Lotus Pub. Vor dem Eingang lungerten einige Seemänner und Hafenarbeiter herum, die mich neugierig beäugten. Obwohl ich mich schon oft in dieser Gegend herumgetrieben und viele Gasthäuser und Opiumkeller besucht hatte, war mir dieser Pub unbekannt. Er machte keinen besonders einladenden Eindruck auf mich. Zur jetzigen Stunde und in meiner derzeitigen Aufmachung schien es mir nicht ratsam, die Schänke zu betreten.
Ich zog den Zylinder tief ins Gesicht, schlug den Pelzkragen meines Mantels hoch, passierte den Lotus Pub auf der gegenüberliegenden Straßenseite und ging auf der Nightingale Lane nach Norden, immer den Bahndamm entlang. Als ich die Stelle erreicht hatte, wo sich die Trasse vor dem Westeingang der London Docks gabelte und sich die Gasse zu einem kleinen Verladeplatz öffnete, bemerkte ich zwei Männer hinter mir. Sie waren mir offenbar vom Lotus Pub gefolgt und blieben ebenfalls stehen, als ich auf dem Platz anhielt und mir unter einer Laterne eine Zigarette anzündete. Der offene und halbwegs beleuchtete Platz bot den Männern nicht die Deckung, die sie offenbar zu finden hofften, daher steckten sie die Köpfe zusammen, als wollten sie nur einen kleinen Plausch halten. Während ich das Streichholz wegwarf und das Zigarettenetui wieder in meiner Brusttasche verstaute, schaute ich mich scheinbar beiläufig um, während ich fieberhaft nach einem Fluchtweg suchte. Der Weg zurück war mir durch die Männer versperrt, der Eingang zu den ringsum bebauten Docks war ebenfalls nicht zu empfehlen, da ich dort wie in einer Falle saß. Blieben nur die beiden Gassen, die links und rechts vom Ladeplatz abgingen. Die eine führte nach Westen in Richtung Tower Hill und war so schmal und dunkel, dass sie wie eine Einladung für jeden Räuber wirken musste. Die andere Straße führte rechter Hand unter dem Bahndamm hindurch und war von meinem jetzigen Standort, nicht nur wegen des Nebels, kaum einzusehen. Dennoch entschied ich mich aus Mangel an Alternativen für diese letzte Option. Langsam trottete ich zur dunklen Unterführung und war nicht wirklich überrascht, dass sich die beiden Männer ebenfalls wieder in Bewegung setzten. Als ich unter der Eisenbahnbrücke ankam und für kurze Zeit aus dem Blickfeld meiner Verfolger verschwunden war, rannte ich los.
Erst als ich die winzige und gänzlich unbeleuchtete Gasse sah, die vermutlich nur als Zufahrt für Lastwagen diente und in einem Halbbogen zurück zu den Docks führte, erkannte ich, dass ich mich für die falsche Seite entschieden hatte. Hinter mir hörte ich das rasche Klacken der Stiefel auf dem Pflaster, vor mir sah ich nichts als Nebel und die Schatten der Lagerhäuser. Keine Menschen auf der Straße, keine Lichter hinter den Fenstern, keine Gasthäuser, in die ich mich hätte flüchten können. Ich überlegte bereits, ob ich mich den beiden Kerlen stellen und ihnen freiwillig meine Geldbörse geben sollte, um auf diese Weise möglichst glimpflich davonzukommen, als ich einen schmalen, sehr steilen Trampelpfad bemerkte, der linker Hand zum Bahndamm hinaufführte. Zwar wusste ich nicht, wohin der unbefestigte Weg führte, aber schlimmstenfalls könnte ich auf den Gleisen weiter nach Norden laufen.