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Ich hatte vermutlich einen Moment zu lange überlegt. Als ich oben auf dem eingleisigen Bahndamm angekommen war, stellte ich erschrocken fest, dass die beiden Männer mich gesehen oder gehört hatten und ebenfalls den Trampelpfad hinaufrannten. Der Weg führte zu einem kleinen Stellwerk neben der Strecke und endete dort. Also blieb mir nichts anderes übrig, als direkt auf den Gleisen weiterzulaufen und zu hoffen, dass ich einen Ausweg fand, bevor ein nächtlicher Güterzug meine Flucht – und womöglich mein Leben – beendete.

Glücklicherweise vermuteten die beiden Männer zunächst, ich würde mich beim Stellwerk vor ihnen verstecken. Während sie das Gelände um das Gebäude absuchten, konnte ich den Vorsprung auf meine Verfolger ausbauen. Die Gleise führten auf steinernen Bögen und zwischen engen Häuserschluchten hindurch direkt nach Norden, wo sie die Royal Mint Street überquerten, bevor sie die Trassen der Blackwall Railway erreichten. Die beiden Männer hatten mittlerweile offenbar ihren Irrtum bemerkt, denn ich konnte hören, dass sie mir auf den Gleisen folgten. Ich war in der Zwischenzeit an der Brücke über der Royal Mint Street angelangt und stellte erleichtert fest, dass eine eiserne Leiter von dem Bahndamm steil nach unten führte und nur etwa zehn Fuß über dem Straßenniveau endete. Schnell kletterte ich hinunter, ließ mich von der untersten Sprosse hinabhängen, sprang aufs Pflaster und rannte davon. Erst rechts, dann links unter der Blackwall-Trasse hindurch, gleich wieder rechts am Bahndamm entlang und schließlich im Zickzack durch die schmalen Gassen, bis ich jede Orientierung verloren hatte und nicht mehr wusste, ob ich mich noch in St. George in the East oder bereits in Whitechapel oder Wapping befand. Da ich die meiste Zeit nach Norden gelaufen war und mich somit vom Fluss entfernt hatte, war der Nebel nicht so dicht wie unten an den Docks.

Meine Verfolger hatte ich offensichtlich abgeschüttelt. Keine hastigen Schritte waren hinter mir zu hören, keine Bewegung im Nebel zu sehen. Als ich einen noch geöffneten Pub an der nächsten Straßenecke bemerkte, wusste ich, dass ich gerettet war. Die Kneipe hieß The Lord Nelson und befand sich an der Ecke Fairclough und Berner Street.

Es durchfuhr mich wie ein Stromschlag. Obwohl ich völlig außer Atem war und mir der Schweiß über die Stirn und in den Nacken lief, war ich sofort hellwach und in höchstem Maße konzentriert. Dies war die Straße, in der Elizabeth Stride ermordet worden war. Und das Lord Nelson war womöglich jene Kneipe, vor der der Mann mit dem Messer gestanden hatte, von dem der mysteriöse Ungar berichtet hatte. Wenn dem so war, dann musste sich der Tatort in unmittelbarer Nähe befinden. In den Zeitungen war stets von einem angrenzenden Club für Arbeiter die Rede gewesen, der mal als jüdisch, mal als sozialistisch bezeichnet wurde. Tatsächlich sah ich nur wenige Schritte von der Kneipe entfernt ein dreistöckiges Gebäude mit einem Schriftzug über dem Eingang an der Straße: »International Working Men’s Educational Club«.

Neben diesem Arbeiterclub führte ein schmaler Durchgang zu einem rückwärtigen Hof, in dem sich die Werkstatt des Wagenbauers Arthur Dutfield befand, wie auf dem hölzernen Tor zu lesen war, das die Passage von der Straße absperrte. Ich erinnerte mich, dass in den Zeitungen oft von Dutfield’s Yard die Rede gewesen war. Es konnte kein Zweifel bestehen: Meine Flucht vor den Verfolgern hatte mich direkt zu der Stelle geführt, an der Long Liz gestorben war. Hinter diesem zweiflügeligen Holztor, dem ich mich nun wie elektrisiert näherte, hatte der Mörder ihr die Kehle durchgeschnitten. An genau der Stelle, an der ich nun stand, hatte sie sich mit dem schnauzbärtigen Mann gestritten.

Als ich meinem Vater vorhin gesagt hatte, ich wolle mir noch ein wenig die Beine vertreten, hatte ich nicht bewusst vorgehabt, ins East End oder gar zur Berner Street zu gehen, und doch war es natürlich kein Zufall gewesen, dass mich meine Schritte die ganze Zeit nach Nordosten geführt hatten, als würde ich von einem Magneten angezogen. Als wäre ich nur ein Rad in einer Maschine, in der alles ineinandergriff und die einem bestimmten Zweck diente.

Das Holztor war nicht verschlossen. Ich hörte ein jaulendes Geräusch, als ich es aufstieß, begriff aber erst verzögert, dass das Jaulen nicht von dem Tor stammte und dass es eher wie ein Wimmern oder Jammern klang. In dem Durchgang war es so finster, dass ich meine Hand kaum vor Augen sehen konnte. Zunächst war nur das leise Wehklagen zu hören, dann auch ein Schnaufen oder Schnorcheln, als hätte jemand Mühe, Luft zu bekommen. Dann wurde es plötzlich ganz still.

»Hallo!«, rief ich und bemühte mich, nicht zu ängstlich zu klingen.

Keine Antwort.

»Ist da jemand?«, versuchte ich es erneut.

»Verpiss dich!«, antwortete diesmal eine heisere Frauenstimme. Ein schmerzhaftes Ächzen verriet, dass das Fluchen der Frau weh getan hatte.

Statt der Aufforderung Folge zu leisten, entzündete ich ein Streichholz und hielt es in die Höhe. Direkt neben dem verschlossenen Seiteneingang zum Arbeiterclub sah ich eine Frau auf dem Boden kauern, die Hände vor dem Gesicht, die Kleidung in Unordnung und teilweise zerrissen. Kurz bevor das Zündholz meine Finger ansengte, warf ich es zu Boden und sagte: »Haben Sie keine Angst!«

»Ich hab keine Angst«, fauchte die Unbekannte. »Und jetzt zieh Leine!«

Abermals entzündete ich ein Streichholz, und weil sie die Hände inzwischen heruntergenommen hatte, konnte ich das Gesicht der jungen Frau erkennen. Sie hatte eine blutige Nase und eine aufgeschlagene Unterlippe, ihre Wangen waren mit roten Striemen übersät.

»Was ist passiert?«, rief ich und reichte ihr die Hand, um ihr aus dem Rinnstein zu helfen. »Wer hat das getan?«

»Was schert dich das?«, schnauzte sie mich an, ließ sich aber dennoch aufhelfen. »Kümmer dich um deinen eigenen Kram!« Ihre heisere Stimme und das blasse Gesicht kamen mir bekannt vor, doch ich kam nicht darauf, wo ich die Frau schon einmal gesehen hatte. Als sie auf den Beinen stand, fuhr ihr ein Schmerz durch den Körper, und sie fasste sich an den Unterleib. Im selben Augenblick erlosch die Flamme.

»Sie brauchen einen Arzt«, sagte ich und stützte sie.

»Wer bist du?«, knurrte die Frau, doch es klang nun weniger abweisend. »Ein verdammter Samariter? Oder so ’n Spinner von der Heilsarmee?«

»Weder noch«, antwortete ich und führte sie hinaus auf die Straße und zur nächsten Laterne. Da ich dem Gesicht der Unbekannten nun ganz nahe war, konnte ich ihre strenge Alkoholfahne riechen. Ich zog ein Taschentuch aus meiner Manteltasche, tupfte ihr Gesicht ab und sagte: »Ihre Wunden sollten behandelt werden.«

»Halb so wild«, meinte sie, nahm mir das Tuch aus der Hand und hielt es sich unter die blutende Nase. Mit der anderen Hand richtete sie ihren Ausschnitt, der zerrissen und blutbefleckt war und die Brüste nur noch leidlich bedeckte. »Was gibt’s da zu glotzen?«, keifte sie. »Willst du auch noch mal ran? Macht dich vielleicht das Blut an? Kostet aber extra.«

Ich schüttelte entsetzt den Kopf und fragte: »Wollen Sie zur Polizei gehen?«

Als Antwort lachte sie nur bitter auf. »Guter Witz!«, rief sie und tippte sich an die Stirn. »Eine Hure geht zur Polizei, um ’nen Freier anzuzeigen. Selten so gelacht!«

»Was haben Sie dort gemacht?«, fragte ich und deutete in den Durchgang.