»Na, dreimal darfste raten, Schätzchen!«, schnaubte sie.
»Nein, Sie verstehen nicht«, sagte ich und schüttelte erneut den Kopf. »Ich meine, warum ausgerechnet dort? In Dutfield’s Yard? Wissen Sie nicht, was vor einigen Wochen in dieser Durchfahrt geschehen ist?«
»Natürlich weiß ich das. Darum ging’s dem Scheißkerl doch«, murmelte sie und senkte den Blick. »Unbedingt hier wollte er’s mit mir treiben. Hat dafür sogar ’n paar Pence draufgelegt. Mit ’ner Hure in Dutfield’s Yard. Genau wie der verdammte Ripper. Hat den Kerl regelrecht brünstig gemacht. Wurde immer aufgeregter. So sehr, dass er plötzlich mit der Faust auf mich eingedroschen hat, während er auf mir lag. Kann von Glück sagen, dass er kein Messer dabeihatte, sonst wäre er wirklich zum Ripper geworden.«
»Sie sollten Anzeige erstatten«, beharrte ich.
»Und was würde mir das nützen?« Diesmal lachte sie nicht, sondern schüttelte leicht den Kopf, dass ihr die dunkelblonden Haare ins Gesicht fielen. »Ist halt so!« Sie gab mir das blutgetränkte Taschentuch zurück, und ihre buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen, als sie fragte: »Wie sieht’s aus, Schätzchen? Willste nun oder willste nicht?«
Ich schaute sie nur fassungslos an. Diese Frau war noch ein halbes Mädchen, doch mit ihrem Leben schien sie längst abgeschlossen zu haben. Ihren Schmerz und Ekel ertränkte sie in Alkohol, Torturen wie am heutigen Abend ließ sie nahezu stoisch über sich ergehen. Ihr eigenes Schicksal schien ihr völlig egal zu sein. Wahrscheinlich hatte sie einfach die Kraft verloren, dagegen anzukämpfen. Warum einen Kampf ausfechten, der bereits verloren war?
»Na, dann eben nicht!«, sagte sie, hob die Schultern und strich mir über den Pelzkragen. »Spendierst du mir wenigstens einen Schnaps? Siehst nicht so aus, als würd dich das arm machen. Bist nicht von hier, was?«
Jetzt erst erkannte ich sie und wusste, wo ich ihr begegnet war. Ich nickte und fragte: »Du bist eine Bekannte von Ginger, stimmt’s? Ich hab euch beiden im Cloak and Dagger ein Bier ausgegeben. Am Montag. Vor der Razzia.«
»Was denn für ’ne Razzia?« Sie schaute mich verwirrt an und schob die aufgeplatzte Unterlippe vor. Vermutlich war sie an dem Abend bereits zu betrunken gewesen. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden!«
Ich kramte in meinem Gedächtnis nach dem Namen der Frau und wurde schließlich fündig: »Du bist Heather, nicht wahr?«
»Und wenn schon«, knurrte sie und fletschte die Zähne.
»Die Freundin von Michael.«
»Was dagegen?« Sie schaute mich überrascht und zugleich beunruhigt an.
»Ich besorge dir was aus der Kneipe«, sagte ich und deutete zum Lord Nelson. »Du wartest hier auf mich. Und dann bring ich dich nach Hause.«
»Nach Hause?«, lachte sie. »Wo soll das sein?«
9
Obwohl Heather behauptete, völlig in Ordnung zu sein und keine Hilfe zu benötigen, ließ sie sich widerstandslos von mir am Arm in Richtung Spitalfields führen. Die Brandyflasche in meiner Manteltasche war ihr Grund genug, wie eine Hauskatze zu schnurren und sich regelrecht an mich zu schmiegen. Gleichzeitig jedoch wirkte sie immer noch benommen und wankte auffallend hin und her, was nicht allein durch den Alkohol zu erklären war, den sie vermutlich im Laufe des Abends zu sich genommen hatte. Der Mann, der sie in Dutfield’s Yard so brutal misshandelt hatte, hatte ihr nicht nur das Gesicht blutig geschlagen, sondern ihr dabei auch den Schädel auf das Pflaster geknallt, wie ich eher zufällig feststellte, als sie im Nebel von einem hohen Bordstein stolperte und ich sie mit der Hand am Nacken festhielt. Das Haar unter ihrem billigen Strohhut war blutverklebt, und bei der Berührung ihres Hinterkopfes stieß sie einen gellenden Schmerzensschrei aus.
»Du musst ins Krankenhaus«, sagte ich, als wir die Whitechapel High Street erreicht hatten. »Du hast bestimmt eine Gehirnerschütterung, und dein Kopf ist verletzt.«
»Unsinn! Mich kann nichts so leicht erschüttern, und mein Schädel kann einiges vertragen!« Sie nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche und deutete nach Norden. »Da lang!«
»Ich weiß, wo die Dorset Street ist«, antwortete ich und zog sie von der Straße, auf der plötzlich ein Hansom Cab aus dem Nebel auftauchte und direkt vor ihrer Nase vorbeidonnerte. »Welche Hausnummer?«
»Achtunddreißig«, sagte sie und schaute mich mit glasigen Augen an. »Woher kennst du Michael?«
»Bin ihm ein paar Mal begegnet«, erwiderte ich ausweichend.
Irgendwo in der Nähe schlug eine Uhr zweimal. Es nieselte, und die klamme Kälte kroch mir durch die Glieder, obwohl mein Mantel mich eigentlich hätte warm halten sollen. Heather war viel zu leicht bekleidet und schlotterte am ganzen Körper. Doch auch das schien nicht allein vom feuchten Herbstwetter zu kommen. Ich legte ihr meinen Mantel um die Schulter, doch das Zittern wurde immer schlimmer. Je weiter wir gingen, desto unsicherer wurden ihre Schritte und desto krampfhafter hielt sie sich an meinem Arm fest. Als wir uns schließlich der Dorset Street von Westen her über die Crispin Street näherten, war Heather kaum noch in der Lage, sich auf den Beinen zu halten.
Die Nummer achtunddreißig war das dritte Haus auf der linken Seite, ein schmuckloser Backsteinbau, der sich lediglich durch die Hausnummer von den anderen heruntergekommenen Häusern in der Dorset Street unterschied. Michael Kidneys Wohnung befand sich im Erdgeschoss. Es war ein ehemaliges Ladengeschäft oder Warenlager mit direktem Zugang zur Straße. Das, was früher einmal ein Schaufenster gewesen sein mochte, war mit dicken Brettern verbarrikadiert. Weitere Fenster gab es nicht, auch die Eingangstür war mit Bohlen vernagelt und geflickt. Selbst wenn die eng bebaute Dorset Street weniger düster gewesen wäre, würde kein Tageslicht je in die Wohnung fallen.
Heather klopfte zaghaft an die Tür, doch niemand öffnete. Ich versuchte es ebenfalls, diesmal etwas kräftiger, doch wieder kam keine Antwort.
»Er ist nicht da«, sagte Heather, deren heisere Stimme nur noch ein Wispern war.
»Hast du keinen Schlüssel?«, wunderte ich mich.
Sie schüttelte mutlos den Kopf und ließ sich an der Wand nach unten gleiten, bis sie mit dem Hinterteil im feuchten Rinnstein saß.
»Wo könnte er sein?«, fragte ich.
»Überall und nirgends«, antwortete sie erschöpft und hielt mir bittend die Hand entgegen. »Vielleicht im Britannia. Oder im Ten Bells.«
Ich gab ihr die Flasche, die sie auf dem Weg von der Berner Street beinahe ganz geleert hatte, und schaute nach Osten. In Richtung Miller’s Court und Britannia Pub, dessen Fenster beleuchtet war, wie man gerade noch durch den Nebel erkennen konnte. Die Christ Church und der Itchy Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren schon nicht mehr zu sehen.
Heather nahm einen großen Schluck, steckte die Flasche in die Manteltasche, spuckte den Alkohol jedoch kurz darauf wieder aus, würgte plötzlich und erbrach sich in den Rinnstein. Ich kniete mich neben sie und hielt ihren Kopf an der Stirn, während sie ein ums andere Mal krampfhaft zusammenzuckte, bis nur noch Galle aus ihrem Mund tropfte. Ich schalt mich einen Esel, weil ich in der Berner Street auf Heather gehört und sie nicht sofort ins nächste Krankenhaus gebracht hatte. Ihre Verletzungen waren offenbar schlimmer gewesen, als es den Anschein gehabt hatte, und das Erbrechen deutete auf eine schwere Gehirnerschütterung hin. Allerdings war sie in ihrem jetzigen Zustand so geschwächt, dass es mir unmöglich schien, sie ohne fremde Hilfe bis zum nächsten Krankenhaus zu bringen. Selbst wenn ich gewusst hätte, wo sich in Spitalfields das nächste Hospital befand.
Das Frauenasyl in der Hanbury Street fiel mir ein. Hatte Heather im Gespräch mit Ginger nicht erwähnt, dass sie eine Zeit lang in dem Heim gewohnt hatte? Sicherlich wussten die Schwestern der Heilsarmee, was in solchen Fällen zu tun und wo ärztliche Hilfe zu bekommen war. Aber selbst der Weg bis in die Hanbury Street war im Augenblick zu weit.