Miller’s Court!, schoss es mir durch den Kopf. Wenn es mir gelänge, Heather bis zu meinem Zimmer zu schaffen und dort aufs Bett zu legen, könnte ich in der Hanbury Street Hilfe holen. Simeon war inzwischen längst wieder im Arbeitshaus, wie ich von Gray erfahren hatte. Das verwaiste Zimmer war vermutlich nicht abgeschlossen, denn andernfalls hätte Simeon mir den Schlüssel zukommen lassen. Und vor allem: Miller’s Court war nur ein paar Schritte entfernt.
Ich nahm Heather, die inzwischen kaum noch bei Bewusstsein war, auf die Arme und wunderte mich, wie schwer sie war, obwohl sie auf den ersten Blick so schmächtig erschien. Vermutlich hatte das damit zu tun, dass sie sich nicht mehr an mir festhalten konnte und völlig leblos in meinen Armen lag. Mit Mühe schaffte ich es bis zum Durchgang und in den Hof, der glücklicherweise noch beleuchtet war. Wie ich richtig vermutet hatte, war die Tür zu meiner Kammer nicht versperrt, der Schlüssel steckte innen im Schloss. Kurz bevor ich einen Krampf in den Unterarmen bekam, legte ich Heather auf das Bett. »Die Matratze ist wie neu«, hatte mein Hauptmieter Edmund gesagt. Das war nicht einmal eine Woche her, doch mir kam es vor, als wäre seitdem eine Ewigkeit vergangen.
Im Zimmer war es erstaunlich warm. Offenbar brannte nebenan der Kamin, denn die Steinmauer strahlte eine wohltuende Wärme ab. Genau wie Edmund es gesagt hatte. Ich zog Heather den Mantel und das nasse Oberkleid aus und bedeckte sie mit der Wolldecke, die erbärmlich nach Alkohol und Schweiß stank. Auf dem Boden fand ich einen Kerzenstummel, den ich mit einem Streichholz entzündete und mit Wachs auf dem Tisch befestigte. Damit Heather etwas sehen konnte, falls sie aus ihrer Ohnmacht erwachte, bevor ich zurückgekehrt war. Was ich allerdings nicht annahm.
Schließlich zog ich meinen nach Erbrochenem stinkenden Mantel wieder an, verließ die Kammer und machte mich auf den Weg zur Hanbury Street.
Doch ich kam nicht weit. Im Durchgang zur Dorset Street traten mir zwei Gestalten entgegen, der eine größer als der andere, der Letztere mit einem Bowler auf dem Kopf, der Erste mit einem Vollbart im Gesicht. Mehr war in der Dunkelheit nicht von ihnen zu sehen. Im ersten Augenblick dachte ich, die beiden Verfolger von den Katherine Docks hätten mich eingeholt, aber das war natürlich Unsinn, wie sich sehr bald herausstellte.
»Na, wen haben wir denn da?«, hörte ich Michael Kidneys spöttische und zugleich bedrohliche Stimme. »Der verlorene Sohn ist zurückgekehrt.«
An dem mehrfachen Räuspern, das auf Michaels Worte folgte, erkannte ich, dass Edmund neben ihm stand.
»Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst verschwinden?«, fauchte Michael, baute sich vor mir auf und stieß mich zurück in den Hof. »Schnüffelst du immer noch hier rum? Ich hatte dich doch gewarnt! Bist du lebensmüde, oder was?«
»Wieso sollte ich verschwinden? Hab doch die Miete einen Monat im Voraus gezahlt«, gab ich mich ahnungslos und ging einige Schritte zurück, sodass ich aus Michaels Reichweite war. »Außerdem habe ich deine Freundin hergebracht. Sie ist schwer verletzt und braucht Hilfe.«
»Welche Freundin?«, knurrte Michael und gab Edmund ein Zeichen, im Durchgang stehen zu bleiben und mir so den Weg zu versperren.
»Heather«, antwortete ich verdutzt. »Wie viele Freundinnen hast du denn?«
»Was ist mit ihr?«, sagte Michael, kam mir erneut näher und packte mich am Kragen. »Was hast du mit ihr gemacht?«
»Ich? Nichts!«, empörte ich mich und wehrte ihn ab. Ich griff in meine Manteltasche, doch die Brandyflasche, die ich als Waffe hätte benutzen können, befand sich nicht mehr darin. Vermutlich war sie auf dem Weg zum Miller’s Court herausgefallen. »Heather wurde von einem Freier übel zugerichtet«, sagte ich. »Ich hab sie zufällig gefunden und in meine Kammer gebracht. Sie liegt ohnmächtig auf dem Bett und braucht dringend einen Arzt.«
»Dummes Zeug!«, schnauzte Michael und winkte ab. »Vermutlich hat sie nur wieder einen über den Durst getrunken. Verdammte Schnapsdrossel!« Er schlug mir mit der Faust auf den Oberarm und bugsierte mich auf diese Weise rückwärts durch den Hof, bis ich vor dem Eingang zu meiner Kammer stand. »Du rührst dich nicht vom Fleck!«, befahl er Edmund, und dann fauchte er mich an: »Rein mit dir!«
Da Miller’s Court eine Sackgasse war und ich sowohl Michael als auch Edmund körperlich weit unterlegen war, blieb mir nichts anderes übrig, als ihm zu gehorchen. Gleichzeitig hielt ich nach irgendetwas Ausschau, das mir als Waffe dienen konnte. Einem Stein oder einem spitzen Stück Holz oder Eisen.
»Siehst du?«, sagte ich und deutete auf das Bett, wo Heather in unveränderter Haltung und mit geschlossenen Augen lag. »Sie wurde zusammengeschlagen und hat eine Gehirnerschütterung. Wir müssen uns beeilen.«
»Lebt sie noch?«, fragte er ungerührt und blieb in der Tür stehen.
»Sie ist ohnmächtig«, antwortete ich und war enttäuscht, weil es außer dem morschen Stuhl und der blechernen Waschschüssel nichts in dem Zimmer gab, mit dem ich mich gegen Michael zur Wehr setzen konnte. »Sie hat eine Wunde am Hinterkopf. Vielleicht ist ihr Schädel gebrochen.«
»Wo hast du sie gefunden?«
»In der Berner Street«, antwortete ich und war sehr auf der Hut, als ich hinzusetzte: »In Dutfield’s Yard.«
Tatsächlich zuckte Michael unmerklich zusammen. Sein Blick verfinsterte sich, und ich sah, wie er in seine Jackentasche griff. Doch er gab keinen Ton von sich, sondern stand nur breitbeinig in der Tür und schien zu warten.
»Hab ich mir gedacht, dass dich das interessiert«, sagte ich und beugte mich über Heather, um ihren kaum noch spürbaren Puls am Hals zu fühlen. Dabei sah ich die leere Brandyflasche. Sie lag auf dem Bett, zwischen Heathers Hüfte und der Steinwand und damit für Michael in dem funzeligen Kerzenlicht nicht zu sehen. Vermutlich war die Flasche aus der Manteltasche gefallen, als ich Heather auf die Matratze gelegt hatte.
»Berner Street?«, sagte Michael lauernd. »Da wurde Liz ermordet, oder?« Seine Hand steckte immer noch in der Jackentasche.
»Wer wüsste das besser als du«, erwiderte ich und ergriff heimlich den Hals der Flasche, bemüht, sie so zu halten, dass mein Körper sie verdeckte. »Schließlich warst du ja dabei.«
»Wer behauptet das?«, knurrte er und grinste plötzlich, als wäre ihm etwas Heiteres eingefallen. Als hätte er eine Entscheidung getroffen.
»Ein Ungar.«
»Oho!«, lachte Michael, »du hast den Star gelesen, was? Die Zeitung ist mir auch untergekommen. Schon merkwürdig, was sich diese Reporter so alles aus den Fingern saugen.«
Ich nickte und stand auf. »Der Mann mit dem Schnauzbart, das warst du, nicht wahr? Du hast dich mit Elizabeth in Dutfield’s Yard gestritten. Und der Ungar hat dich dabei gesehen.«
»Jack the Ripper hat Liz ermordet«, antwortete Michael achselzuckend. »Das kannst du überall nachlesen. Jeder Cop wird’s dir bestätigen.«
»Wir wissen es besser«, sagte ich, stellte mich so, dass der Tisch zwischen uns war, und hielt den rechten Arm hinter meinem Rücken. »Der Ripper hat damit nichts zu tun. Es war nur ein Zufall, dass in der gleichen Nacht Catherine Eddowes ermordet wurde. Nur ein paar hundert Schritte von der Berner Street entfernt. Darum haben alle gedacht, er hätte in dieser Nacht zweimal zugeschlagen.«
»Willst du mal was Hübsches sehen?«, rief Michael vergnügt, zog die Hand aus der Tasche und holte ein Springmesser heraus. Er drückte auf einen Knopf, und sofort schnellte eine Klinge seitlich aus dem Griff. »Mit diesem Messer wurde Liz getötet«, sagte er, zeigte mir das Messer und fuhr sich anschließend spielerisch mit der Klinge über die Gurgel. »Ein Schnitt, und schon war’s passiert!«
»Warum?«, fragte ich, während ich die Flasche hinter meinem Rücken fester umfasste. »Hat Liz dich betrogen? Wollte sie dich mal wieder verlassen? War’s ihr diesmal ernst damit? Wollte sie zurück zur Heilsarmee?«