»Scheiß auf Liz!«, schrie Michael plötzlich und stieß das Messer in meine Richtung, ohne mir damit jedoch bedrohlich nahe zu kommen. »Liz war nicht wichtig. Genauso wie Heather oder all die anderen Weiber. Eine wie die andere. Zum Teufel mit ihnen!«
»Wenn Liz so unwichtig war«, wunderte ich mich und ging langsam um den Tisch herum. »Warum hast du sie dann umgebracht?«
»Habe ich ja gar nicht«, lachte er glucksend und ließ das Messer von der einen Hand in die andere wandern. »Du hast doch den Star gelesen, Schwachkopf!«
Ich verstand nicht.
»Erinnerst du dich nicht, was der Ungar gesagt hat? Es gab einen zweiten Mann. Und der hatte das verdammte Messer!« Er schüttelte belustigt den Kopf und deutete mit seinem Springmesser zur Tür.
Das war die Gelegenheit, auf die ich gewartet hatte. Ich holte mit der Flasche aus und schlug mit voller Wucht auf sein Handgelenk. Seine Knochen brachen mit lautem Knacken, das Messer fiel zu Boden, und Michael stieß einen fürchterlichen Schrei aus. Erst als ich den Schatten hinter mir wahrnahm, begriff ich, was Michael soeben gesagt hatte: Der zweite Mann hatte das Messer! Mein Blick ging zur Tür. Dort stand Edmund und starrte mich an. Er hatte zwar kein Messer in der Hand, wie vor drei Wochen in der Berner Street, dafür aber eine seltsam geschwungene Eisenstange.
»Mach schon!«, schrie Michael.
Im selben Augenblick brüllte Edmund wie ein Affe, und die Stange sauste auf mich nieder. Ich ließ mich zur Seite fallen, doch der Schlag traf mich dennoch an der Schläfe. Mit einem Knall gingen die Lichter aus. Wie bei einer explodierenden Glühbirne.
ACHTER TEIL
»Murder! The very night seemed to know it, and the desolate wind to howl it in his ear. The dark corners of the streets were full of it. It grinned at him from the roofs of the houses.«
(»Mord! Selbst die Nacht schien es zu wissen, und der trostlose Wind schien es in sein Ohr zu heulen. Die dunklen Straßenwinkel waren voll davon. Es grinste ihm von den Dächern der Häuser entgegen.«) Oscar Wilde, Lord Arthur Savile’s Crime, 1887
SEPTEMBER/OKTOBER 1884
1
Nichts galt mehr. Auf nichts war mehr Verlass. Das hatte Ned gewusst, als sie den armen Dick töteten, um sein Blut zu trinken und sein Fleisch zu essen. Und das wusste er auch jetzt, als er vom Angeklagten zum Verräter wurde. Vom Mittäter zum Zeugen der Krone. Sie hatten mit der Tötung des Jungen eine Grenze überschritten, waren zu reißenden Bestien geworden und würden fortan dafür zahlen. Nichts wäre mehr, wie es vorher war. Der Geist war aus der Flasche.
Zunächst aber hatte ihnen die grausame Bluttat das Leben gerettet. Am 29. Juli, fünf Tage nachdem sie Dick getötet und ausgeweidet hatten, waren sie von dem deutschen Segelfrachter Montezuma mitten im Atlantik aufgelesen worden. Das Beiboot und die abgenagten Überreste des toten Jungen hatten sie als Beweismittel mit an Bord genommen. Kapitän Dudley hatte darauf bestanden, nichts zu verheimlichen, sondern alles wahrheitsgemäß zu berichten. Der Brauch des Meeres stehe auf ihrer Seite, behauptete er und schien keinen Gedanken daran zu verschwenden, dass man ihnen aus dem Vorfall einen Strick drehen könnte. Der himmlische Gott und das irdische Gesetz waren gleichermaßen mit ihnen.
Umso größer war das Entsetzen, als die drei Männer Anfang September, direkt nach ihrer Ankunft in Falmouth, wegen Mordes verhaftet wurden. Drei Tage waren sie in einer kargen Zelle eingesperrt, bevor ein Friedensrichter sie bis zur Verhandlung am 18. September gegen eine hohe Kaution auf freien Fuß setzte. Immer noch war der Kapitän davon überzeugt, dass das Gericht sie freisprechen würde, weil sie ja nichts Unrechtes getan hatten. Dass sie gegen Kaution freigekommen waren und ihnen in der Stadt so viel Verständnis und Unterstützung entgegengebracht wurde, bestärkte den gutgläubigen Kapitän nur in seiner Ansicht. Und er erzählte allen Reportern und Neugierigen, die davon hören wollten, was draußen auf hoher See in dem verfluchten Dingi geschehen war.
Ned aber ahnte, dass sie nicht ungeschoren davonkommen würden. Dass sich etwas über ihren Köpfen zusammenbraute und ein Exempel an ihnen statuiert werden sollte. Allerdings hatte er keine Ahnung, dass ausgerechnet er als unfreiwilliges Werkzeug für dieses Exempel dienen sollte. Sie würden gemeinsam freigesprochen oder allesamt ins Gefängnis gehen, davon war Ned immer überzeugt gewesen. Erst als der Staatsanwalt bei der Hauptverhandlung die Beteiligung des Matrosen Brooks herunterspielte und zugleich die Schuld des Kapitäns Dudley und die Mitschuld des Maats Stephens betonte, schwante Ned, dass der Prozess eine unerwartete Wendung nehmen würde.
Weil Edmund Brooks sich mehrfach ausdrücklich gegen die Tötung des Jungen ausgesprochen habe, so schloss der Staatsanwalt seine etwas umständlichen Ausführungen, und weil besagter Brooks weder Täter noch Komplize bei der Ausführung der Tat gewesen sei, beantrage die Staatsanwaltschaft, den Angeklagten formell zu entlasten und ihn stattdessen für den Fortgang des Verfahrens als Zeugen zu benennen.
Der Friedensrichter stimmte dem Antrag überraschend schnell und widerspruchslos zu und beendete, unter dem beifälligen Murmeln der Zuschauer, die Beweisaufnahme gegen den Angeklagten Brooks.
Ned begriff zunächst nichts. Zu fremd waren ihm die juristischen Begriffe und das hochgestochene Vokabular. Doch als ihm sein Anwalt freudig die Hand schüttelte und ein ebenfalls lächelnder Polizist erschien, um ihn von der Anklagebank zu führen, da dämmerte ihm, was die Worte des Staatsanwalts bedeuten mochten, und er erschrak. Sofort ging sein Blick zu Dudley und Stephens, und deren Gesichtern war abzulesen, was sie in diesem Augenblick dachten: Ned hatte sie verraten. Er hatte die eigene Freiheit erkauft, indem er sie ans Messer lieferte.
Gern hätte Ned ihnen zugerufen, dass sie sich irrten und dass er von dem Kniff des Staatsanwalts, der offenbar mit dem Richter abgesprochen war, ebenso überrascht war wie sie, doch schon fasste ihn der Polizist am Ärmel und führte ihn aus dem Saal. Dass manche der Zuschauer ihm applaudierten oder sogar auf die Schulter klopften, machte alles nur noch schlimmer. Denn kurze Zeit später, nachdem er grübelnd im Flur gesessen hatte, wurde er erneut in den Gerichtssaal gerufen. Diesmal als Zeuge der Krone.
Im Zeugenstand sagte er genau das aus, was er auch als Beschuldigter stets zu Protokoll gegeben hatte. Und es unterschied sich nur unwesentlich von dem, was Tom Dudley und Edwin Stephens ausgesagt und niemals bestritten hatten. Ja, er versuchte sogar, die in seinen Augen eigenmächtige Vorgehensweise des Kapitäns zu beschönigen, und wies darauf hin, dass sie alle nicht mehr leben würden, wenn Dudley und Stephens anders gehandelt hätten. Doch darum ging es dem Staatsanwalt nicht, und auch das Gericht interessierte sich mehr für den Akt der Tötung als dafür, wessen Leben durch diese Verzweiflungstat gerettet worden war. Einziger Zweck des Verfahrens war es, den Angeklagten den mildernden Umstand der Notwehr abzusprechen.
Als Ned seine Aussage gemacht hatte und vom Staatsanwalt mit einem zufriedenen Nicken entlassen worden war, hatte er wieder einmal das Gefühl, sich schmutzig gemacht und seine Seele verraten zu haben, eine ohnmächtige Figur in einem abgekarteten Spiel zu sein. Ein bisschen wie damals bei seinem Einverständnis, die schwangere Mary zu heiraten und nach Brightlingsea zu schaffen. Oder im Dingi, als er stillschweigend zugesehen hatte, wie ein wehrloser Junge getötet worden war. Das Schicksal meinte es nicht gut mit Ned. Die Ereignisse rollten über ihn hinweg, rissen ihn mit und spuckten ihn wieder aus. Und Ned hatte keine Ahnung, was er dem entgegensetzen konnte.