»Wunder Punkt!«, frohlockte Heather. »Wusste ich’s doch: Papas Liebling!«
»Dumme Kuh!«, murmelte Celia und ging hinaus.
Celia fühlte sich fremd in der ungewohnten Umgebung und war doch froh, etwas zu tun zu haben und das Frauenasyl vorerst nicht verlassen zu müssen. Wohin sollte sie auch gehen, an wen sollte sie sich wenden? Sie kannte niemanden in London und verspürte nicht die geringste Lust, sich wie eine Müßiggängerin die Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt anzuschauen. Das wäre ihr ungehörig erschienen, auch wenn es sie ja keinen Penny gekostet hätte, sich jene berühmten Gebäude und Denkmäler aus der Ferne anzusehen, von denen ihre Mutter so oft erzählt hatte. Nein, solange sie nicht wusste, was sie tun sollte und wohin ihr Weg sie führen würde, war es ihr nur recht, mit den anderen Frauen im Arbeitsraum im Erdgeschoss zu sitzen und Kleider zu nähen. Außerdem bekamen alle Frauen, die den Heilsarmistinnen tagsüber zur Hand gingen, neben dem Frühstück und Abendessen, das allen bedürftigen Gästen des Hauses zustand, eine warme Mittagsmahlzeit. Der dünne Linseneintopf, der heute ausgeschenkt wurde, schmeckte zwar fad und muffig, mundete Celia aber dennoch, weil sie dafür gearbeitet und ihn nicht als Almosen erhalten hatte.
Celia war eine gute Schneiderin und mochte diese Art von Arbeit, die ihr die Möglichkeit bot, vor sich hin zu träumen. Wären die Probleme im wirklichen Leben doch nur ebenso einfach zu beheben wie ein durchgescheuerter Ärmel oder eine gesprengte Naht. Könnte man seinem Schicksal oder seinem Lebensweg bloß mit Nadel, Fingerhut und Faden beikommen!
Während sie mit geschickten und flinken Fingern den Stoff bearbeitete und nach Vorgabe der Heilsarmistinnen flickte, stopfte und ausbesserte, überlegte sie, wie sie nun weiter vorgehen sollte. Denn dass ihre überstürzte Reise nach Southampton und die ebenso unüberlegte Weiterfahrt nach London eine Dummheit gewesen waren, lag auf der Hand und war ihr längst klar geworden. Es fragte sich nur, ob eine Rückkehr nach Brightlingsea sinnvoll und erstrebenswert war. Auch an der Küste von Essex wartete niemand auf sie. Sie hatte kein Zuhause mehr. »Dann such dir ein neues«, hatte Mr. Egerton, der Wirt in Southhampton, gesagt.
Die Suche nach dem verschollenen Vater war jedenfalls zwecklos. Das hatte sie bereits am gestrigen Abend erkannt, auch wenn sie Heather gegenüber heute Morgen etwas anderes behauptet hatte. Ned Brooks war eine Fantasievorstellung gewesen, ein Trugbild, wie eine dieser seltsamen Fata Morganas, von denen sie in dem langen Zeitungsartikel gelesen hatte, den ihre Mutter ebenfalls in der Emailledose aufbewahrt hatte.
Anfangs hatte Celia sich gewundert, als sie in der Dose neben dem bestickten Taschentuch, der Postkarte aus Southampton und dem Familienfoto auch eine Titelseite der Illustrated London News aus dem Dezember 1884 entdeckt hatte. Auf der gesamten Vorderseite und einem Großteil der Rückseite war von der sogenannten Gordon Relief Expedition die Rede, die auf dem Nil von Ägypten bis zum Sudan führen sollte, um einen britischen Gouverneur oder General zu befreien, der dort von einheimischen Aufständischen belagert worden war. Zunächst hatte Celia vermutet, ihr Vater oder ein anderer Verwandter habe womöglich an dieser kriegerischen Expedition teilgenommen, doch weder in dem reich mit Zeichnungen bebilderten Hauptartikel noch in den kleineren Meldungen, die diesen umrahmten, war sie auf irgendeinen bekannten Namen gestoßen.
Warum also hatte sich ihre Mutter derart für das Schicksal des belagerten Generals Gordon interessiert, der im Januar 1885 – kurz vor dem Eintreffen der britischen Rettungsexpedition – von den Angreifern in der Stadt Khartum getötet worden war? Celia wusste keine Antwort auf diese Frage. Mary Brooks hatte den Namen Charles Gordon nie in den Mund genommen, und von einer Nil-Expedition hatte Celia die Mutter ebenfalls niemals reden hören. Andererseits war es vermutlich kein Zufall, dass sowohl der Zeitungsartikel als auch die Postkarte, die über Ned Brooks Verbleib berichtete, aus dem Jahr 1884 stammten.
Während sie das Futter einer Haube ausbesserte, trat Captain Florence an sie heran, lobte unter wohligen Seufzern und mit ausladenden Gesten Celias formidable Nähkunst und teilte ihr anschließend milde lächelnd mit, ein Bruder warte draußen auf der Straße auf sie und bitte um ein kurzes Gespräch.
Bei diesem Bruder konnte es sich nur um Adam Bedford handeln. Als Celia den jungen Mann vor der Tür stehen sah, freute sie sich, als wäre er ein alter Freund, den sie ihr Leben lang und nicht erst seit der letzten Nacht kannte.
»Wie gefällt sie dir?«, fragte Adam, nachdem er sich zur Begrüßung verbeugt und ihr den Arm zum Geleit gereicht hatte. Wie einer vornehmen Dame.
»Wer?«, fragte Celia und hakte sich bei Adam unter, der wie gestern seine Uniform trug, die heute jedoch nicht so staubig und fleckig war und frisch gebürstet wirkte. Sogar die Metallknöpfe leuchteten, als wären sie poliert worden. Celia fragte: »Meinst du die Unterkunft?«
»Nein, ich meine Captain Florence.« Adam führte Celia in Richtung einer breiten Durchgangsstraße. Bald kam eine neu gebaute Halle aus rotem Backstein in Sicht, die sich auffallend von den heruntergekommenen oder unscheinbaren Häusern der Nachbarschaft unterschied. »Ist sie nicht ein Engel?«, fragte er. »Und nebenbei hat sie auch noch drei kleine Kinder zu versorgen und andere Dinge der Heilsarmee zu organisieren. Erstaunlich, nicht wahr?«
»Die Schwestern sind alle sehr nett«, antwortete Celia ausweichend und hatte zugleich Angst, es könnte ein wenig undankbar klingen. Daher fügte sie hinzu: »Captain Florence hat meine Näherei gelobt. Sie ist sehr zufrieden mit mir.« Sie entdeckte ein Schild über dem Eingang der Backsteinhalle, auf dem »Spitalfields Market« stand. Der Inschrift darunter war zu entnehmen, dass die Markthallen erst im vergangenen Jahr, aus Anlass des Thronjubiläums von Königin Victoria, eingeweiht worden waren.
»Ein Engel, ganz recht«, schwärmte Adam und nickte, als hätte Celia genau seine Worte bestätigt. Er bog nach links ab, deutete auf eine nahe gelegene Kirche aus weißem Stein mit riesigem Säulenportal und unglaublich hohem Turm, dessen Spitze an den Wolken zu kratzen schien, und sagte: »Das ist die Christ Church.«
»Du willst in die Kirche?«, fragte Celia überrascht.
»Nein«, antwortete Adam, »ich gehe in kein Gebäude der Kirche von England. Nicht mehr.« Er räusperte sich verlegen und setzte hinzu: »Ich möchte dir zeigen, wo Schwester Eva heute Abend reden wird.«
»In dieser Kirche?«, wunderte sich Celia. »Ist das die ›Höhle des Löwen‹, von der du gestern gesprochen hast?«
Adam lachte und schüttelte den Kopf. »So gottlos sind die Anglikaner nun auch wieder nicht.« Er wies mit der Hand auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo sich eine Schänke mit dem klangvollen Namen The Ten Bells befand. »Hier erschallen die Glocken des Lasters und der Sünde, Schwester Eva wird deshalb genau an diesem Ort die Frohe Botschaft verkünden und die armen Sünder zur Umkehr bewegen.«
»Warum ausgerechnet hier?«, fragte Celia und schaute zum Eingang der Schänke, vor dem sich bereits zu dieser frühen Nachmittagsstunde etliche Männer lärmend, trinkend und rauchend versammelt hatten. »Das Lokal sieht nicht gerade nach einem Treffpunkt für eifrige Kirchgänger aus.«
»Das ist es ja eben!«, rief Adam frohlockend. »Der General hat uns aufgetragen, die Frohe Botschaft Jesu genau dorthin zu tragen, wo sie am bittersten benötigt wird. Nicht in die feinen und reichen Häuser, nicht in die frommen Betkreise, nicht in die Kirchen und Gemeindesäle, sondern zu den Trinkern, Huren und Bettlern. In die Kneipen und Bordelle. Zu den Leuten, die aus jeder Kirche gewiesen würden, weil sie in ihrem Elend angeblich dem Herrn nicht zur Ehre gereichen.«