Der Friedensrichter von Falmouth verwies das Verfahren wegen der Schwere der Anschuldigungen an das Schwurgericht in Exeter, wo Ned erneut aussagen musste, diesmal vor Geschworenen. Der Richter ließ die beiden Angeklagten vorübergehend auf freien Fuß, aber nur gegen Kaution, bis zum nächsten Gerichtstermin.
Ned hingegen war in jeder Hinsicht ein freier Mann. Er konnte gehen, wohin er wollte, wie ihm sein Anwalt versicherte. Ned dankte ihm und schüttelte zugleich den Kopf. Er wusste es längst besser.
2
Sie verachteten ihn. Ned kannte die Blicke, mit denen sie ihm in der County Tavern und den anderen Kneipen in Southampton begegneten, nur zu gut. Als wäre seine bloße Anwesenheit eine Beleidigung oder Zumutung für sie. Darum schaute er zu Boden und wich ihren Blicken aus, die wie spitze Pfeile waren. Auch Mary hatte ihn auf diese Weise angeschaut, als er nach dem Tod des kleinen George an dessen Grab gesagt hatte, nun könnten sie doch von vorne anfangen und alles würde ein gutes Ende nehmen. »Ein gutes Ende?«, hatte Mary ihn wütend angefaucht. »Für wen?« Ihre Augen waren voller Hass und Abscheu gewesen.
Es waren oft nur verstohlene Blicke und kleine Gesten, selten offene Worte und noch seltener grobe Taten. Doch Ned wusste, dass sie ihn für einen Judas Ischariot hielten. Egal ob in Mr. Egertons County Tavern oder den anderen Hafenkneipen in Northam, überall wurde er abschätzig beäugt und wie ein Aussätziger gemieden. Wenn er am Tresen saß, wurden die Hocker neben ihm bald frei. Wenn er sich an einen Tisch setzte, standen die anderen wortlos auf und gingen. Als wäre es seine Schuld, dass die Geschworenen in Exeter die beiden Seeleute für schuldig befunden hatten, ohne jedoch im Urteilsspruch klarzustellen, ob es sich nun um Mord handelte oder nicht. Das würde erst in einer weiteren Verhandlung vor einem höheren Gericht in London festgestellt, und dort würde auch das Strafmaß festgelegt. Glücklicherweise war Ned nicht aufgefordert worden, erneut in London auszusagen. Die Protokolle seiner bisherigen Aussagen genügten dem Gericht, und so blieb es Ned erspart, dem Kapitän und dem Maat der Mignonette ein weiteres Mal unter die Augen zu treten. Auch sie hatten ihn mit diesem beredten und vernichtenden Blick bedacht.
Alle hielten Ned für einen Schurken. Nicht weil er das Fleisch von Dick Parker gegessen hatte, sondern weil er nicht mit den anderen beiden Männern auf der Anklagebank saß und bangend auf die Urteilsverkündung in London wartete. Im Gerichtssaal hatten die Leute ihm noch applaudiert, doch nach dem Ende der Verhandlung in Falmouth und der nicht erfolgten Freilassung der anderen Männer war die Stimmung merklich gekippt. Plötzlich musste er sich rechtfertigen, obwohl er doch gar nichts falsch gemacht hatte. Er hatte nicht gelogen, er hatte keinen Judaslohn empfangen, er hatte niemandem Schaden zugefügt. Er war unschuldig in die Mühlen der Justiz geraten und zwischen ihren Mühlsteinen zerquetscht worden. Durch eine Freilassung, die alle für das Ergebnis eines verräterischen Handels mit dem Anwalt der Krone hielten! Dass das nicht der Wirklichkeit entsprach, konnte er nicht beweisen, und seinem Wort wurde nicht geglaubt. Der äußere Schein sprach gegen ihn. Die Freilassung hatte ihm das Genick gebrochen.
Das Schicksal war ein schlechter Verlierer, dachte Ned manchmal. Immer wenn er glaubte, dass alles sich zum Guten wendete, kam von irgendwoher der nächste Nackenschlag. Er hatte die Frau geheiratet, die er liebte, doch das hatte sein Leben vernichtet. Er hatte einen Schiffbruch überlebt und war gerettet worden, wurde aber als Kannibale und Mörder angeklagt. Er war freigesprochen worden, galt seitdem aber als Verräter.
Beinahe schlimmer als die Ablehnung und der Hass, die ihm so unvermittelt entgegenschlugen, war die Tatsache, dass er keine anständige Arbeit mehr fand. Kein Schiff, egal ob Überseedampfer oder Flussfähre, ließ ihn anheuern, kein Kapitän wollte es wagen, ihn an Bord zu beschäftigen und dadurch womöglich eine Rebellion der Mannschaft zu riskieren. Auch die Segelregatten kamen nicht mehr in Frage, weil sich die unrühmliche Kunde längst wie ein Lauffeuer an den Küsten entlanggefressen hatte. Nicht einmal in Brightlingsea hätte man ihn auf einer Rennjacht arbeiten lassen.
Ned Brooks war als Matrose erledigt. Er hielt sich als schlecht bezahlter Tagelöhner in den Docks von Northam leidlich über Wasser und versoff das wenige Geld abends in den Schänken. Nur der Alkohol war ihm geblieben und in all den Jahren nie untreu geworden. Damals in Brightlingsea, als er den Ekel über sich selbst in Schnaps ertränkt hatte, und heute in Southampton, wenn er billigen Fusel in sich hineinkippte, um die Erinnerung an die Tage im Dingi abzutöten und die unbegreiflichen Folgen des Schiffbruchs zu verdrängen. Ein verlässlicher Freund! Der einzige, den er noch hatte.
Der Brief aus London kam ebenso unerwartet wie gelegen. Wie ein Geschenk. Ned hatte seit Tagen keine Arbeit im Hafen gefunden, was auch daran lag, dass er nur noch volltrunken durch die Gegend wankte und sich wortwörtlich den Verstand aus dem Schädel soff. Mit billigem Blindmacher, der nach Steinöl schmeckte und einem das Hirn ausradierte. Das Schreiben stammte von einem gewissen Tom Norman, der sich selbst »The Silver King« nannte und ihm ein verlockendes Angebot machte. Ned sollte als Darsteller in einer Bühnenschau irgendwo im Londoner East End auftreten. Dabei sollte er nichts anderes machen, als auf der Bühne seine Geschichte zu erzählen. So detailliert, kenntnisreich und realistisch wie möglich. Damit das geneigte Publikum erfahre, welche unsäglichen Qualen die armen Seeleute auf hoher See durchlitten hätten, wie Mr. Norman es in seinem Brief pathetisch ausdrückte.
Ned war zwar ein Säufer und manchmal etwas schwer von Begriff, aber er war kein Dummkopf. Er wusste, was es mit diesen Penny Gaffs auf sich hatte, denn er hatte in den letzten Jahren einige solcher Vorstellungen gesehen, in denen menschliche Kuriositäten, absonderliche Gestalten und blutrünstige Geschichten präsentiert wurden. Doch der versprochene Lohn war ordentlich, Kost und Logis waren inbegriffen, und ob er sich nun in den Straßen Southamptons zum Gespött machte oder auf einer Londoner Bühne den Kannibalen mimte, darauf kam es letztlich nicht an. Ned hatte ohnehin nichts mehr zu verlieren. Seinen Stolz als Allerletztes.
Also kaufte er sich von seinem letzten Geld eine Fahrkarte dritter Klasse nach London, ging vom Bahnhof Waterloo direkt zur Whitechapel Road im East End und trat bereits einen Tag später beim Silver King auf. Aus dem Matrosen Ned Brooks wurde der »Kannibale des Meeres«, der dem gebannten Publikum von dem Untergang der Mignonette und den Tagen im Dingi erzählte.
Neben ihm traten vollbärtige Spanierinnen, verhutzelte Zwerge, orientalische Feuerschlucker und spindeldürre Riesen auf. Und nicht zuletzt, als Hauptattraktion der Schau, der sogenannte »Elefantenmensch«, eine fürchterlich anzuschauende Kreatur, die so missgestaltet war, dass die Frauen im Publikum bei ihrem Anblick reihenweise in Ohnmacht fielen. Gegen diesen Joseph Merrick war Neds Auftritt, bei dem er sich vor einer schäbigen Kulisse in zerlumpten Kleidern zeigte und mit rollenden Augen blutiges Fleisch verzehrte, eine eher harmlose Angelegenheit. Doch seltsamerweise fühlte er sich im Kreise dieser kuriosen und widernatürlichen Gestalten zum ersten Mal seit langer Zeit gut aufgehoben. Er war, so eigenartig ihm das selbst auch manchmal erschien, unter seinesgleichen – ein Ausgestoßener unter Ausgestoßenen.
Ned schrieb Mr. Egerton eine Ansichtspostkarte des Penny Gaffs und teilte ihm, nur für den Notfall, seine aktuelle Adresse mit. Doch nie meldete sich jemand aus Southampton oder kam ihn gar besuchen. Alle waren erleichtert, dass er sie nicht länger mit seiner Gegenwart belästigte. Und er war froh, sich nicht länger rechtfertigen zu müssen.
Anfang Dezember 1884 las er in der Zeitung, dass Tom Dudley und Edwin Stephens vom Londoner Divisionsgericht zum Tode verurteilt worden waren. Was für seinen Auftritt auf der Bühne durchaus förderlich war, weil es die nachlassende Aufmerksamkeit plötzlich in die Höhe schnellen ließ, bedeutete für Ned eine persönliche Katastrophe, die nicht einmal durch unablässigen Alkoholexzess abzumildern war. Ned dachte mehr als einmal an Selbstmord, doch dazu fehlte ihm der Mut. Und so war die Erleichterung groß, als die Verurteilten wenig später von der Königin begnadigt und das Todesurteil in eine Gefängnisstrafe umgewandelt wurde. Die Krone hatte ihren Präzedenzfall und war vermutlich mit dem Ausgang des Verfahrens sehr zufrieden. Die unglücklichen Beteiligten wurden für eine Weile in Holloway weggesperrt und dann nicht länger beachtet. Sie hatten ihre undankbare Rolle gespielt und damit, ebenso wie Ned, aus Sicht der Justiz ihren Zweck erfüllt.