Für einen kurzen Augenblick kam ihm der Gedanke, die beiden Seeleute in Holloway zu besuchen, doch dann ließ er ebenso rasch wieder davon ab. Was hätte es ihm oder ihnen gebracht? Es hätte die alten Wunden nur wieder aufgerissen. Ned sah weder den Kapitän noch den Maat der Mignonette jemals wieder. Doch in seinen Alpträumen wurde er sie nicht los. Immer und immer wieder erschienen ihm die beiden Verurteilten und der tote Dick im Schlaf und ließen ihn schweißgebadet aufwachen. Und wie auf der Bühne rief er ihnen ins Gesicht: »Ich bin unschuldig. Ich war’s nicht. Ich war dagegen!«
Die relative Geborgenheit seines Daseins im Penny Gaff währte allerdings nicht lange. Noch im Dezember kam dem Silver King seine Hauptattraktion abhanden, und der Laden in der Whitechapel Road wurde von der Polizei nach einer Razzia geschlossen. Ned erfuhr nie, was aus dem »Elefantenmensch« geworden war und aus welchem Grund das Penny Gaff die Türen schließen musste. Angeblich hatte ein Arzt aus dem gegenüberliegenden Royal Hospital seine Hände im Spiel; man sagte, er habe wegen der menschenunwürdigen Verhältnisse Anzeige gegen Tom Norman erstattet. Doch das war nur eines von vielen Gerüchten, die sich um den Silver King und sein Monstrositätenkabinett rankten.
Einige Monate lang tingelte Ned mit Tom Norman und einigen anderen Darstellern durch das Land. Er trat in irgendwelchen Hinterzimmern zweitklassiger Kneipen auf und ließ sich seine Gage immer häufiger in Schnaps auszahlen. Seine Auftritte bewältigte er schließlich nur noch in betrunkenem Zustand, was die Glaubwürdigkeit seiner grotesken Darstellung zwar noch steigerte, aber seinem Verstand nicht zuträglich war. Er wurde immer mehr zum menschlichen Wrack.
Es war eine seltsame Ironie des Schicksals, dass genau das, war er sich einst sehnlich gewünscht hatte, schließlich zu seinem Unglück beitrug. Die Erinnerung an das tragische Los der Schiffbrüchigen verblasste, der Aufsehen erregende Fall wurde zu den Akten gelegt und von der Öffentlichkeit vergessen, der »Kannibale des Meeres« verlor seinen Schrecken. Andere Gräueltaten beherrschten die Schlagzeilen, über die Mignonette sprach niemand mehr. Entsprechend müde waren die Reaktionen auf Neds Darbietungen. Irgendwann hatte der Silver King schlichtweg keine Verwendung mehr für ihn. Beim nächsten Gastspiel der Truppe in London wurde er von Mr. Norman entlassen, mit einem Händedruck und ein paar aufmunternden Worten.
Ned tat das, was er immer getan hatte: Er fügte sich in sein Schicksal. Ein Kämpfer war er nie gewesen, allein zu kämpfen lag ihm erst recht nicht. Gern hätte er allen seine Verzweiflung, seine Enttäuschung und Wut ins Gesicht geschrien, doch das entsprach nicht seinem Naturell. Und was hätte es auch genutzt? Die Wut wendete sich stattdessen nach innen, die Verzweiflung blieb stumm und ungehört. Ned resignierte und gab auf. Es hatte ohnehin alles keinen Sinn. Also verdingte er sich als Tagelöhner in den Docks oder am Fischmarkt, verrichtete die niedrigsten Arbeiten, flüchtete sich zusehends in den Alkohol und wohnte in irgendwelchen Armenunterkünften. Oder in der Gosse, wenn auch dazu das Geld nicht reichte. Sein Ende als Schnapsleiche schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein.
Doch dann begegnete er eines Nachts Michael Kidney im Britannia Pub. Aus Gründen, die für Ned bis heute schleierhaft waren, nahm der ihn unter seine Fittiche. Er besorgte ihm eine zwar schlecht bezahlte, aber dauerhafte Arbeit im Hafen und verschaffte ihm sogar eine billige Unterkunft in Spitalfields. Michael gab Ned etwas, was dieser schon lange nicht mehr erfahren hatte: Aufmerksamkeit. Und sei es auch nur in winzig kleinen Portionen. Michael kümmerte sich um ihn, wie man sich um einen streunenden Hund kümmert, den man für seine Zwecke abrichtete. Er war für Ned da und gab ihm eine Richtung. Und genau das war es, was Ned im Augenblick am dringendsten benötigte. Er war ein Matrose und brauchte einen Kapitän, der ihm sagte, wo es langging. Michael gab Ned das belebende Gefühl, gebraucht zu werden oder zumindest nicht unnütz zu sein. Ned kam sich plötzlich nicht mehr wie ein Aussätziger vor. Und er zahlte es Michael durch absolute Loyalität und unbedingten Gehorsam heim.
Er nannte sich fortan Edmund und verschwieg, wenn möglich, seinen Nachnamen. Niemand aus seinem neuen Umfeld wusste, wer er war und was ihm widerfahren war. Er war nicht länger ein Jachtenmatrose oder Kannibale oder Kronzeuge oder Bühnendarsteller, sondern einfach der Dockarbeiter Edmund. Ein etwas merkwürdiger und verschrobener Kerl, der von den anderen Arbeitern ein wenig beäugt oder belächelt, aber in Ruhe gelassen wurde.
Solange Michael an seiner Seite war.
SEPTEMBER/OKTOBER 1888
3
Natürlich gab es einige, die ihn vor Michael Kidney warnten. Ginger etwa, die hübsche rothaarige Hure von gegenüber, die ihn manchmal durchs Fenster zuschauen ließ, wenn ein Freier bei ihr lag. Oder auch Gingers Freund, der Fischträger Joseph, der unten am Fischmarkt von Billingsgate arbeitete. Sie nannten Michael ein dampfendes Pulverfass, das jederzeit hochgehen konnte, und bezweifelten, dass er sich nur aus Nächstenliebe so rührend um ihren eigenartigen Nachbarn kümmerte.
Edmund brauchte diese gut gemeinten Ermahnungen und Ratschläge nicht, denn er ahnte durchaus, dass Michael nicht ohne Eigennutz handelte. Edmund war nicht so blauäugig, an Freundschaft oder gar Großmut zu glauben. Er war deshalb auch nicht überrascht, als Michael ihn aufforderte, das rückwärtige Brennholzlager, das zu Edmunds Wohnung gehörte, zu räumen und seiner Freundin Long Liz kostenlos zur Verfügung zu stellen. Edmund war froh, von Nutzen sein zu können, und ließ Michael, der Widerspruch ohnehin nicht hätte gelten lassen, über die Kammer verfügen.
Auch die seltsamen Botengänge, die Edmund für Michael unternahm und bei denen er fest verschnürte Pakete in die eine Richtung und versiegelte Briefumschläge in die andere Richtung beförderte, störten Edmund nicht. Was in den Paketen und Briefen war, interessierte ihn nicht, solange Michael ihm anschließend auf die Schulter klopfte und ihn zur Belohnung auf ein Bier ins Britannia einlud.
»Mein bester Mann«, so nannte Michael ihn manchmal im Scherz.
»Ay, Master!«, antwortete Edmund dann mit ernster Miene.
Vermutlich hatte Ginger recht, wenn sie behauptete, dass Michael ihn nur ausnutzte und für die eigenen Zwecke missbrauchte. Wenn es beispielsweise Ärger mit Long Liz gäbe, die oft betrunken war und wie ein Waschweib auf offener Straße herumkeifte, dann wäre Edmund als offizieller Hauptmieter wie ihr vermeintlicher Zuhälter erschienen und womöglich für ihre Eskapaden haftbar gemacht worden. Denn nur darum gehe es Michael, vermutete Ginger. Nichts anderes könne hinter dieser seltsamen Untervermietung stecken. Auch die Botengänge, von denen sie durch Joseph erfahren hatte, waren ihr suspekt. Wenn nämlich Edmund mit den geheimnisvollen Paketen in eine Polizeirazzia geriete, dann würde Michael bestimmt nicht für ihn in die Bresche springen, sondern seine Hände in Unschuld waschen. Darauf könne Edmund Gift nehmen.
Edmund wusste all das oder spürte es zumindest, aber es war ihm egal, solange Michael ihn halbwegs anständig behandelte. Und das tat er. Auch wenn er ihn manchmal einen Trottel nannte und sich vor den anderen über ihn lustig machte. Worte konnten ihn nicht mehr treffen, darüber war er längst hinaus. Er hatte wieder eine Aufgabe, und Michael zählte auf ihn. Das allein war wichtig.