Darum war es für Edmund auch kein Grund zur Besorgnis, als Michael ihm eines Tages auftrug, ein wachsames Auge auf seine beiden Weibsbilder zu haben, wie er es ausdrückte. Außer Long Liz, die er bei Edmund im Miller’s Court untergebracht hatte, gab es noch eine zweite Frau, Fanny Annie, für die er ein Zimmer in einer billigen Herberge in der Devonshire Street gemietet hatte und die er ebenfalls auf die Straße schickte, um für ihn anzuschaffen. Die beiden Frauen wussten nichts von der jeweils anderen, denn Michael schaffte es, seine freie Zeit so zwischen der Dorset Street in Spitalfields und der Devonshire Street in Mile End aufzuteilen, dass kein Verdacht aufkam. Edmund sollte den Aufpasser spielen und den Frauen in der Zeit, in der Michael anderweitig beschäftigt war, auf die Finger schauen und ihnen gerne auch mal auf dieselben hauen, wenn sie in Kneipen das Geld versoffen, statt es auf der Straße zu verdienen.
Edmund fühlte sich geschmeichelt. Nicht nur weil er einer der wenigen war, die von Michaels Doppelleben wussten, sondern auch weil Michael ihm mit dem Auftrag ein schönes Springmesser mit dunklem Horngriff überreichte. »Falls die Weiber mal Zicken machen«, wie er grinsend hinzufügte.
Mit Fanny Annie gab es nie Ärger. Sie stammte aus Polen oder Russland und trieb sich die meiste Zeit in Mile End und Limehouse herum, wo viele ihrer Landsleute lebten und gern Huren nahmen, mit denen sie in ihrer Muttersprache reden konnten. Falls ihnen denn nach Reden zumute war. Annie war keine Trinkerin und überhaupt ein schlichtes Gemüt. Sie wollte so viel Geld wie möglich zusammenkratzen, um es ihrer kleinen Tochter zu schicken, die bei den Großeltern in der Heimat geblieben war. Annie träumte davon, ihre gesamte Familie nachzuholen und in einer hoffentlich nahen Zukunft ein neues Leben zu beginnen. Edmund zuckte nur mitleidig mit den Schultern, wenn sie ihm davon erzählte, und sagte kein Wort. Wer war er, ihr die Illusion zu nehmen? Sie würde früh genug erkennen, wie töricht ihre Träume waren.
Long Liz hingegen war ein Problem. Immer häufiger betrank sie sich, zettelte unnötig Streit an, vergrätzte durch ihr unflätiges Benehmen die Freier und wurde mehr als einmal wegen Trunkenheit oder Erregung öffentlichen Ärgernisses zur Polizeiwache gebracht. Einmal hatte sie Michael sogar wegen Tätlichkeit auf der Wache angezeigt, die Beschuldigung aber am nächsten Morgen, in nüchternem Zustand und übersät mit blauen Flecken, zurückgezogen. Hinzu kam, dass sie ständig das Blaue vom Himmel log und ein dreistes Märchen nach dem anderen erzählte, um kein Geld abgeben zu müssen. Mal war sie überfallen und ausgeraubt worden, ein anderes Mal hatte ein Polizist ein Bestechungsgeld verlangt. Oder eine unerklärliche kurzzeitige Unpässlichkeit hatte sie davon abgehalten, Geld zu verdienen. In Wirklichkeit jedoch hockte sie in den Kneipen und schüttete sich zu, bis sie auf allen vieren zum Miller’s Court kroch und in ihrer Bretterbude verschwand.
Liz wurde mit der Zeit zu einer Belastung, und immer wieder kam es deshalb zum handfesten Streit mit Michael. Und mit Edmund, der sich dafür verantwortlich fühlte, dass Liz parierte und keinen Unfug anstellte. Weil Michael ihm vertraute.
Eines Tages im September war Liz plötzlich verschwunden. Vermutlich hatte Michael sie einmal zu oft oder etwas zu heftig verdroschen, jedenfalls waren am nächsten Morgen ihre Sachen weg und sie selbst unauffindbar. Michael tobte und suchte alle Kneipen im East End ab, doch er konnte Liz nirgends finden, was ihn erst recht in Rage versetzte.
Edmund verstand nicht genau, warum Michael sich derart aufregte. Liz war mit ihren vierundvierzig Jahren, der runzligen Haut und den fehlenden Schneidezähnen nicht gerade eine Augenweide. Außerdem hatte sie in den letzten Wochen kaum noch etwas herangeschafft und war für alle ein einziges Ärgernis gewesen. Weder Michaels Schläge noch Edmunds Messer, mit dem er vor ihrer Nase herumgefuchtelt hatte, hatten daran etwas ändern können. Michael hätte eigentlich froh sein können, dass er Liz endlich losgeworden war. Denn dass Michael tatsächlich etwas für Long Liz empfand, das schien für Edmund nahezu ausgeschlossen. Liz war eine Plage, und einer Plage weinte man nicht nach.
Doch Michael behauptete, es gehe ums Prinzip. Er lasse sich nicht an der Nase herumführen, von niemandem, schon gar nicht von einem hässlichen Weibsstück. Eher werde er Liz die Gurgel durchschneiden, als ihr erlauben, sich ungefragt davonzumachen. Wenn, dann jage er, Michael, sie zur Hölle. Nicht umgekehrt!
Anschließend machte er Edmund Vorwürfe, weil er nicht ordentlich auf Liz aufgepasst habe. Das war natürlich ungerecht, denn Liz war mitten in der Nacht heimlich aus der Dorset Street davongeschlichen, nachdem Michael sie sich vorgeknöpft hatte. Wie hätte Edmund das allen Ernstes verhindern können? Doch er wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit Michael darüber zu streiten. Wenn der seine Tobsuchtsanfälle hatte, war es besser, zu allem Ja und Amen zu sagen und das Donnerwetter über sich ergehen zu lassen. Sonst wurde alles nur noch schlimmer. Das hatte Edmund oft genug am eigenen Leib erfahren.
Schließlich brachte Michael eher zufällig in Erfahrung, dass Liz sich zur Heilsarmee geflüchtet hatte und sich bei den frommen Betschwestern vor ihm versteckte. Angeblich hatte sie dem Alkohol und den Männern abgeschworen und sich Gott zugewandt. Gemeinsam mit Edmund wollte Michael sie aus dem Haus in der Hanbury Street herausholen, doch sie wurden bereits an der Tür von einer Schar uniformierter Matronen abgewiesen.
»Kein Mann betritt dieses Haus!«, riefen sie und drohten mit der Polizei. Besonders eine junge Frau mit feuerrotem Haar tat sich bei den Salutistinnen hervor und baute sich vor Michael auf, als wollte sie es tatsächlich mit ihm aufnehmen. Michael sah schließlich ein, dass er nichts gegen diese zu allem entschlossenen Weibsbilder ausrichten konnte, doch er drohte, er werde in der Nacht wiederkommen und sich holen, was ihm gehöre.
Edmund bezweifelte das. Das Frauenasyl hatte tatsächlich etwas von einer Burg – wie hätte Michael Liz aus dieser Festung locken sollen? An eine gewaltsame Stürmung des Asyls war nicht zu denken. Umso überraschter war er, als ihm sein Kompagnon am nächsten Morgen stolz mitteilte, er habe Liz aus der verdammten Weiberhölle befreit.
Auf Edmunds Frage, wie ihm dieses Kunststück gelungen sei, antwortete Michael grinsend: »Mit Speck fängt man Mäuse.« Dann packte er Edmund plötzlich am Kragen und fauchte: »In Zukunft passt du besser auf, du Trottel! Damit das nicht noch mal passiert. Verstanden?«
»Ay«, gab Edmund kleinlaut zurück, wich seinem Blick aus und bat zerknirscht um Verzeihung. »Kommt nicht wieder vor, Michael. Kannst dich auf mich verlassen. Das verspreche ich. Eher schneiden wir ihr die Gurgel durch, stimmt’s?«
Michael stutzte. Dann lachte er wie über einen Witz, zuckte mit den Schultern und sagte: »Wenn’s sein muss!«
Deshalb folgte Edmund Liz in der folgenden Nacht auf Schritt und Tritt. Von Kneipe zu Kneipe, rund um die Christ Church, wo Liz sich den Kerlen anbot oder etwas zu trinken erbettelte. Einmal verschwand sie mit einem Freier in einem Hauseingang neben dem Ten Bells, doch davon abgesehen war nicht viel los. Edmund beobachtete sie aus der Ferne und achtete darauf, unbemerkt zu bleiben. Nur für den Fall, dass sie in die Hanbury Street ginge, wollte er eingreifen und sich ihr in den Weg stellen. Sonst beließ er es bei der heimlichen Observation.
Da das Geschäft in Spitalfields recht mau verlief, ging Liz nach einiger Zeit in Richtung Whitechapel, wo sie die Gegend zwischen der Commercial Road und den London Docks abgraste. Doch auch hier waren ihre Dienste kaum gefragt. Es war noch nicht so spät und die Kunden nicht betrunken genug, um sich mit einer heruntergekommenen Säuferin wie Liz einzulassen. Eher aus Mitleid bekam sie immer wieder ein Bier oder einen Schnaps spendiert, manchmal machte sie sich über die abgestandenen Reste in den Biergläsern her, bevor sie weggeräumt wurden. Schließlich, an der Ecke Berner und Fairclough Street, verschwand sie im Lord Nelson Pub und kam gar nicht wieder heraus. Als Edmund durch das Fenster schaute, sah er sie allein an einem Ecktisch sitzen und die Reste mehrerer Biergläser zusammenkippen.