Edmund betrat das Lord Nelson und stellte Liz zur Rede. Doch sie lachte ihn nur aus und meinte, er solle sich gefälligst zum Teufel scheren. Auch die Erwähnung von Michael und das Vorzeigen des Messers, das er in der Innentasche seiner Jacke trug, hatten keinen Erfolg. Liz schüttelte lediglich den Kopf und beschimpfte Edmund als albernes Schoßhündchen, das gern ein Wachhund wäre. Aber wenn’s drauf ankäme, würde er doch den Schwanz einkneifen. »Das Messer kannst du getrost wegstecken«, keifte sie und winkte ab. »Weißt ja ohnehin nicht, wie man damit umgeht.«
»Mit so einer Waffe hab ich schon einen Menschen zerlegt«, entfuhr es Edmund, bevor er sich auf die Lippen beißen konnte.
Liz starrte ihn einen Moment lang verwundert an. Doch dann lachte sie und rief: »Sehr witzig! Hättest mich beinahe drangekriegt, Edmund! Und jetzt verpiss dich, du Schwachkopf!«
Edmund hatte nicht wenig Lust, ihr das zahnlose Lächeln aus dem Gesicht zu prügeln. Doch er zwang sich, ruhig zu bleiben, machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Kneipe. Es war bereits nach Mitternacht. Edmund überlegte eine Weile und entschied sich dann, Michael aus der Devonshire Street zu holen, die nur einen Steinwurf entfernt war. Dann würde Liz schon sehen!
»Schwanz einkneifen!«, zischte er. »Von wegen!«
Michael war offenkundig wenig erfreut, als Edmund vor der Tür stand. An dem hastig übergezogenen Hemd und der offenen Hose erkannte Edmund, dass er zu einem ungünstigen Zeitpunkt gekommen war. Außerdem war Michael betrunken, wie seine Fahne und seine glasigen Augen verrieten. Als Michael jedoch hörte, was sein Besucher über Liz berichtete, schickte er Fanny Annie wieder ins Bett, zog sich an und ging torkelnd mit Edmund zur Berner Street. Er schaute durch das Fenster des Lord Nelson, sah Liz unverändert die Bierreste aufsammeln, stieß einen Fluch aus und klopfte an die Scheibe.
Als Liz Michael auf der Straße sah, fuhr sie augenblicklich in die Höhe, um die Kneipe zu verlassen. Das abfällige Lachen war ihr schlagartig vergangen. Als sie vor dem unsicher wankenden und finster dreinschauenden Michael stand, war sie nur noch ein Häufchen Elend. Edmund betrachtete die beiden vom Eingang der Kneipe und hielt die Kreuzung im Auge, als wartete er auf jemanden.
»Ich hab mich nur ein wenig ausgeruht«, behauptete Liz und starrte zu Boden.
»Anstrengende Nacht gehabt?«, knurrte Michael und fasste sie wie ein Kaninchen im Genick. »Hart gearbeitet, was?«
In diesem Augenblick kam ein Polizist die Fairclough Street entlang und näherte sich dem Lord Nelson. Edmund räusperte sich laut, und Michael führte Liz mit unverändert hartem Griff einige Schritte in die Berner Street hinein. Als der Polizist um die Ecke gebogen war, stieß Michael sie in einen Eingang auf der linken Seite und rief Edmund zu: »Du passt auf!«
Edmund näherte sich dem mit einem Holztor versperrten Eingang, der zum Hof eines Wagenbauers führte, blieb jedoch wie angewurzelt stehen, als sich plötzlich ein Passant näherte. Weil Michael vor dem Holztor auf Liz einbrüllte und sie, wie den Geräuschen zu entnehmen war, brutal zu Boden stieß, wurde der Mann auf die Szene aufmerksam und rief irgendetwas in einer für Edmund unverständlichen Sprache.
Edmund warnte Michael mit einem Pfiff und ging gleichzeitig dem Fremden entgegen. Als er direkt vor ihm stand, zückte Edmund das Messer, ließ es aufspringen und grinste zufrieden, als der Passant panisch zurückwich und dann Hals über Kopf davonlief.
Michael hatte inzwischen das Holztor geöffnet und Liz in den Durchgang gestoßen, wo sie mit einem dumpfen Schrei zu Boden ging. Edmund überquerte die Straße und betrat ebenfalls die Passage. »Arthur Dutfield, Wagenbauer«, stand auf dem Holztor. Es dauerte eine Weile, bis Edmund sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, doch dann erkannte er Michael, der Liz am Kragen packte und durchschüttelte, als wollte er sie auf diese Weise zur Vernunft bringen.
»Verdammtes Miststück!«, schnauzte Michael.
»Lass mich doch gehen!«, bat Liz.
»Was machen wir jetzt mit ihr?«, fragte Edmund.
»Was wohl!«, knurrte Michael und ließ von ihr ab. »Zur Hölle mit ihr!«
»Zur Hölle mit ihr«, wiederholte Edmund und nickte, weil er wusste, was Michael von ihm verlangte. Er sprang auf Liz zu, riss ihr den Kopf nach hinten und schnitt ihr mit dem Messer die Gurgel durch. Genauso wie Michael es am Morgen gesagt hatte: »Wenn’s sein muss!«
Liz war zu überrascht, um sich zu wehren. Ihre Knie gaben nach, und sie sackte zu Boden. Eine Weile war nur das Gurgeln des Blutes in ihrer Kehle zu hören. Und ein seltsames Blubbern oder Rauschen. Wie damals im Dingi, als das gurgelnde Geräusch seine Lebensgeister wiederbelebt und er sich auf den Becher mit dem dampfenden Blut gestürzt hatte. Das Geräusch war allerdings nur einige Sekunden lang zu hören, dann war alles ruhig.
»Was hast du getan, du Idiot?«, schrie Michael, starrte auf die sterbende Liz und raufte sich die Haare.
»Wie du gesagt hast, Michael«, sagte Edmund, wischte die Klinge an Liz’ Ärmel ab und klappte das Messer zu. Er begriff nicht, was er falsch gemacht haben sollte. »Lieber schneiden wir ihr die Gurgel durch.«
»Aber das war doch nicht so gemeint«, behauptete Michael und riss ihm die Waffe aus der Hand. »Bist du denn völlig übergeschnappt?«
»Du hast es gesagt«, beharrte Edmund.
»Verdammter Schwachkopf!«, schrie Michael und steckte das Messer in seine Tasche. »Das gibt’s doch gar nicht!«
In diesem Augenblick hörten sie einen Pferdewagen, der sich ratternd auf der Berner Street näherte und direkt vor dem Durchgang zum Stehen kam.
»In den Hof!«, befahl Michael und schubste Edmund, der völlig verstört war und überhaupt nichts begriff, wie ein kleines Kind vor sich her. »Über die Mauer!«
Die beiden Flügel des Holztores öffneten sich genau in dem Moment, als Michael und Edmund auf eine im Hof abgestellte Lastenkarre kletterten und von dort über die Mauer auf das Nachbargrundstück sprangen. Als der Kutscher des Wagens wenige Augenblicke später die Leiche im Durchgang entdeckte, waren Michael und Edmund bereits durch einen schmalen Durchlass zwischen zwei Häusern in die Fairclough Street entkommen.
4
Edmund hatte nichts gegen Frauen. Sie waren ihm unheimlich und erschienen ihm rätselhaft, und viele von ihnen schüchterten ihn ein, aber er hasste sie nicht. Nicht wirklich. Auch Liz hatte er nicht gehasst, trotz der boshaften Worte und geringschätzigen Blicke, mit denen sie ihn immer wieder gedemütigt hatte. In gewisser Weise hatte Liz ihn behandelt, wie ihn schon Mary früher immer behandelt hatte: mit einer Mischung aus Verachtung und Spott. Als wäre er ein albernes Insekt, das nicht einmal wert war, zertreten zu werden. Doch das war nicht der Grund gewesen, warum er sie getötet hatte.
Nein, mit Rache, Vergeltung und verletztem Stolz hatte das nichts zu tun, da war sich Edmund sicher. Er hatte lediglich getan, was seine Aufgabe gewesen war. Wie damals im Dingi, als der Schiffskoch Ned den toten Jungen zerteilt hatte, damit die Mannschaft zu essen hatte. Wie man es von einem guten Smutje erwarten konnte. Er hatte Liz die Gurgel durchgeschnitten, weil Michael es ihm aufgetragen hatte. Nur zu diesem Zweck hatte er ihm schließlich das Messer gegeben. Auch wenn Michael das anschließend nicht wahrhaben wollte und Edmund einen gemeingefährlichen Irren nannte.
Wie sonst wäre es zu erklären gewesen, dass Michael mit ihm geflüchtet war und ihn anschließend nicht bei der Polizei verpfiffen hatte? Warum hätte er sonst all die Falschaussagen vor dem Gericht und gegenüber den Reportern machen sollen? Es wäre doch ein Einfaches gewesen, alles auf Edmund zu schieben und, wie Ginger es gesagt hatte, die Hände in Unschuld zu waschen. Warum also hatte er sich so verhalten?