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Gewiss, Michael hätte nicht gut dagestanden, wenn die ganze Wahrheit über ihn und Long Liz herausgekommen wäre. Sein Verhalten war doch sehr verdächtig gewesen. Und womöglich hätte ihn das Gericht wegen seiner Beteiligung an der Tat sogar belangen können. Vor allem wenn Edmund dem Coroner seine Sicht der Dinge preisgegeben hätte. Doch der eigentliche Grund für Michaels Schweigen und seine Lügen war ein anderer: Edmund hatte seinen Befehl ausgeführt. »Zur Hölle mit ihr!« Er hatte Michael einen Gefallen getan. Davon war er fest überzeugt, und das ließ er sich auch von Michael nicht ausreden. Er wusste es schließlich besser.

Was in Dutfield’s Yard geschehen und wer letztendlich dafür verantwortlich war, spielte ohnehin keine Rolle mehr. Denn Jack the Ripper hatte Long Liz ermordet! Elizabeth Stride, wie sie plötzlich von allen genannt wurde. Jeder redete davon, niemand zweifelte daran. Ein Doppelmord! Was sonst?

Es war schon ein seltsamer Zufall, dass nur eine halbe Stunde nach Liz’ Tod eine weitere Frau getötet worden war. Nicht mal eine Meile von der Berner Street entfernt. Und weil der zweite Mord am Mitre Square so viel blutrünstiger ausgeführt worden war, konzentrierte sich fast alles auf diese Tat. Kaum jemand erkannte, dass Liz’ Tod nicht ins Muster passte. Die Leute sahen nur, was sie sehen wollten: Der Ripper war beim ersten Mord durch das herannahende Pferdefuhrwerk gestört worden und hatte sein blutiges Werk nicht vollenden können. Deshalb hatte er kurz darauf ein zweites Mal und diesmal so unfassbar barbarisch gemordet. Alles passte zusammen, alles ergab Sinn.

»Du hast wirklich mehr Glück als Verstand«, sagte Michael nach der Anhörung vor dem Coroner zu Edmund und fasste ihn hart am Handgelenk. »Komm also nicht auf die Idee, irgendwelchen Unsinn über mich oder Liz zu verbreiten. Du hältst dein Maul, sonst müsste ich nämlich andere Saiten aufziehen.«

»Ich schweig wie ein Grab«, antwortete Edmund und schaute zu Boden.

»Das will ich dir auch raten«, sagte Michael, griff in die Jackentasche und holte das Springmesser heraus. »Denk dran, ich hab immer noch das Messer. Wenn du deine Klappe nicht hältst, landest du ruckzuck am Galgen.«

Edmund verstand zwar nicht, was das Messer damit zu tun hatte, denn immerhin gehörte es Michael. Und es stand nicht im Griff eingraviert, wer Liz damit die Gurgel durchgeschnitten hatte. Wenn Michael jetzt zur Polizei ginge, säße er selbst ebenfalls in der Patsche. Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen! Doch Edmund verstand die Warnung auch so. Wie er überhaupt Michael sehr gut verstand. Vermutlich besser, als der sich selbst.

Dass Michael sich in den folgenden Wochen auffallend zurückzog und den Kontakt zu Edmund auf das Notwendigste beschränkte, kränkte Edmund zwar, doch auch dafür hatte er Verständnis. Erst musste ein wenig Gras über die Sache wachsen, dann würde alles wieder sein wie zuvor. »Mein bester Mann!« Auch dass Michael keine Verwendung mehr für die Bretterbude hatte und Edmund mitteilte, er könne sie wieder als Brennholzlager benutzen oder anderweitig vermieten, leuchtete Edmund ein. Nichts sollte mehr an Long Liz erinnern. Michael schenkte ihm sogar die Matratze, die er für Liz besorgt hatte.

»So gut wie neu«, sagte er.

»Danke, Michael«, antwortete Edmund. »Für alles.«

Doch mit dem neuen Untermieter schien Michael ebenfalls nicht einverstanden zu sein. Bereits bei ihrer ersten Begegnung vor einer Woche hatte er ihn so komisch angeschaut, als wäre er ihm schon einmal über den Weg gelaufen. Erst durch Ginger hatte Edmund überhaupt erfahren, dass der Untermieter Rupert hieß, doch seltsamerweise war der Kerl schon in der nächsten Nacht verschwunden und blieb für einige Tage verschollen. Ebenso merkwürdig war es, dass Michael vor zwei Tagen im Hafen auf Edmund zugekommen war und ihm zu verstehen gegeben hatte, dass dieser Rupert ihnen hinterherspionierte und vermutlich ein Reporter oder Polizeispitzel war. Dass er jedenfalls nicht der war, für den er sich ausgab.

Edmund nickte nur und fragte: »Was soll ich tun?«

»Dem Kerl sollte man mal das Maul stopfen.«

»Verstehe«, sagte Edmund. »Hab ihn aber lange nicht gesehen.«

»Falls er noch mal auftaucht, knöpf ihn dir vor!«, meinte Michael und zog Edmund am Ärmel zu sich heran. »Auch zu deinem eigenen Interesse. Aber mach diesmal keinen Unsinn! Du sollst ihm nur das Maul stopfen, damit er verschwindet.«

Edmund nickte gehorsam.

In derselben Nacht hörte er ein lautes Schnarchen aus dem Bretterverschlag und ging nach hinten, um dem Schlafenden die befohlene Abreibung zu verpassen. Er öffnete lautlos die Tür zur Bude, schlich zum Bett und wollte diesem Rupert das Maul stopfen. Doch irgendetwas stimmte nicht. Der Kerl auf dem Bett stank wie ein Tier, nach Schnaps und Pisse, wie einer der Herumstreuner aus dem Itchy Park. Wie Edmund, bevor er Michael begegnet war. Als sich Edmunds Augen an das Dunkel in der Kammer gewöhnt hatten, erkannte er schemenhaft einen verfilzten Vollbart und eine riesige Runkelnase. Das war nicht Rupert!

Der Mann wurde wach, fuhr hoch und schrie erschrocken auf.

Edmund gab ihm eins aufs Maul. Für alle Fälle.

Der Vollbärtige brüllte wie ein Wahnsinniger, stieß Edmund zur Seite, rannte davon und ließ nur die Erinnerung an seinen bestialischen Gestank zurück.

Edmund war seit Tagen nicht im Britannia Pub gewesen. Genau genommen seit letztem Montag, als er für einen Moment plötzlich geglaubt hatte, seine Mary dort an einem Tisch am Fenster zu sehen. Zusammen mit Heather, Michaels neuer Freundin. Natürlich wusste Edmund, dass das unmöglich war. Denn die Mary hier, im Britannia, war genauso alt gewesen wie diejenige Mary, die er vor zwanzig Jahren im George Inn kennengelernt hatte. Als wäre die Zeit spurlos an ihr vorbeigezogen. Nur bleicher und abgemagerter war sie gewesen, wie eine Sterbenskranke.

Edmund glaubte eigentlich nicht an Gespenster, und mit Aberglauben hatte er nichts am Hut, und doch war es ihm, als wäre ihm Marys Geist erschienen. Das war die einzige sinnvolle Erklärung, die ihm einfiel. Entweder das, oder er begann, seinen Verstand zu verlieren. Doch wenn Mary eine Spukgestalt war, dann bedeutete das, dass sie gestorben war. Denn Lebende verwandelten sich nicht in Geister.

In den Tagen danach hatte er einen großen Bogen um das Britannia gemacht. So, wie er seit Jahren einen Bogen um das George Inn machte. Seit er vor vier Jahren wieder nach London zurückgekommen war, hatte er die Kneipe in Southwark nicht mehr betreten. Den gesamten Stadtteil auf der Südseite der Themse hatte er nach Möglichkeit gemieden wie der Beelzebub das Weihwasser. Und dennoch war es ihm nicht gelungen, seiner Vergangenheit zu entkommen. Marys Wiedergängerin hatte ihn angestarrt mit ihrem bleichen Gesicht und ihren großen Augen, die ihn damals so verzaubert hatten. Dieselben Augen, die ihn später voller Verachtung angeschaut hatten. Als wäre alles seine Schuld.

Ausgerechnet im Britannia wollte sich Michael nun mit ihm treffen. Wegen Rupert. Edmund wagte keinen Widerspruch. Zum Glück waren weit und breit keine Geister auszumachen. Heather war irgendwo in Whitechapel unterwegs, um Geld anzuschaffen, und von der vermeintlichen Mary war ebenfalls nichts zu sehen. Nur ein dummes Hirngespinst, sagte Edmund zu sich, glaubte aber den eigenen Beschwörungen nicht so recht.

Edmund berichtete Michael, was in der vergangenen Nacht geschehen war und dass nicht Rupert, sondern ein völlig Fremder in Ruperts Bett gelegen habe.

»Ein Gentleman mit Zylinder und feinem Gehrock?«, fragte Michael und nickte wissend. »Ich sagte ja, er spielt ein doppeltes Spiel.«

»Nein, kein Gentleman«, wunderte sich Edmund. »Ein stinkender Streuner mit verdrecktem Bart.«