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Michaels Blick verfinsterte sich. Er wirkte überrascht und ratlos, und das gefiel Edmund überhaupt nicht. Denn es machte ihn unsicher. Wenn nicht einmal Michael wusste, was zu tun war, dann war auf nichts mehr Verlass!

»Was, zum Teufel, hat der Kerl vor?«, fragte Michael. »Was weiß er?«

»Was soll er schon wissen?«, antwortete Edmund verwirrt.

Michael sah aus, als wüsste er darauf eine Antwort, doch er zuckte mit den Schultern und sagte stattdessen: »Einen ganz schönen Schlamassel hast du da angerichtet! Verdammter Trottel!«

Jetzt ging das wieder los, dachte Edmund, mied aber Michaels Blick und schaute aus dem Fenster. Der Nebel war inzwischen so dicht, dass nicht einmal die Christ Church auf der anderen Straßenseite zu sehen war. Selbst die Passanten vor dem Fenster waren nur als Schemen zu erkennen.

»Der Kerl muss weg!«, sagte Michael schließlich und knallte das Bierglas auf den Tisch. »Weg mit ihm!«

»Dafür müsste er erst mal wieder auftauchen«, meinte Edmund.

»Glaub mir, das wird er«, antwortete Michael und bestellte noch eine Runde. »Und dann schnappen wir ihn uns!«

»Wie Liz?«, fragte Edmund.

»Wie Liz«, bestätigte Michael und zog die Augenbrauen hoch.

Edmund starrte auf seine Finger und nickte.

Es war weit nach Mitternacht, als sie schließlich das Britannia als letzte Gäste verließen. Der Wirt bugsierte sie auf die Straße und sperrte die Tür hinter ihnen zu. Edmund hatte zu viel getrunken und fühlte sich unsicher auf den Beinen. Wie bei einem ersten Landgang nach langer Zeit auf hoher See. Bei dem Nebel konnte man zudem kaum die Füße auf dem Boden sehen. Zum Glück hatten sie es nicht weit.

Als sie die Dorset Street betraten, glaubte Edmund eine Bewegung hinter sich zu bemerken, doch als er sich umdrehte, war niemand zu sehen. Nur ein Straßenköter huschte knurrend um die Ecke.

Im selben Augenblick stieß Michael ihn an und deutete in die entgegengesetzte Richtung. Edmund sah gerade noch, wie eine seltsam unförmige Gestalt den Durchgang zum Miller’s Court betrat.

»Was war das?«, flüsterte Edmund erschrocken.

»Das werden wir gleich wissen«, antwortete Michael ebenso leise.

Sie gingen zum Durchlass und schauten in den Hof, der nur durch die Gaslaterne beschienen war. Trotz der schlechten Sicht erkannte Edmund, dass dort jemand eine andere Person auf den Armen trug. Wie die Muttergottes den toten Jesus, ging es ihm durch den Kopf. Dann war der Schatten hinter dem Gebäude verschwunden.

»Wo sind sie hin?«, fragte Edmund.

»Bestimmt nicht zum Scheißhaus«, lachte Michael.

»Oh«, sagte Edmund.

»Du sagst es!«, antwortete Michael.

Sie mussten nicht lange warten. Schon nach kurzer Zeit bog der Schatten erneut um die Ecke und kam auf sie zu. Diesmal ohne zweite Person auf den Armen. Als er unter der Laterne stand, erkannte Edmund den Gentleman, trotz Mantel und Zylinder.

»Na, wen haben wir denn da?«, fragte Michael spöttisch. »Der verlorene Sohn ist zurückgekehrt.«

Wie Liz, dachte Edmund und räusperte sich.

NEUNTER TEIL

CELIA UND RUPERT

»Then I sought the face of my soul,

and I saw upon its darkness the answer to my uttered question,

and I knew that I stood in the presence of him

who had done battle with love, Death.«

(»Dann suchte ich das Angesicht meiner Seele,

und ich sah in seiner Dunkelheit die Antwort auf meine Frage,

und ich wusste, dass ich vor ihm stand,

der mit der Liebe gekämpft hatte, dem Tod.«)

Simeon Solomon, A Vision of Love Revealed in Sleep, 1871

DONNERSTAG, 25. OKTOBER 1888

1. CELIA BROOKS

Celia hätte nicht genau sagen können, wie lange sie schon vor dem Britannia Pub stand und durchs Fenster in den verrauchten Schankraum schaute. Es erschien ihr wie Stunden, doch sie hatte jedes Zeitgefühl verloren und kam sich vor wie in einem Traum. Was auch durch den dichten Nebel ringsum verstärkt wurde, der alles unwirklich aussehen ließ. Womöglich hatte sie immer noch ein wenig Fieber, jedenfalls fuhren ihr in unregelmäßigen Abständen Schauer über den Rücken, als legte sich ihr eine kalte Hand in den Nacken. Mehrmals fuhr sie herum, weil sie tatsächlich glaubte, jemand stünde hinter ihr, doch da war niemand. Keiner der zahlreichen Passanten nahm von ihr Notiz, obwohl sie wie angenagelt auf dem Gehweg stand und auf den Eingang des Britannia starrte.

Ihr Vater saß in der Kneipe. Zusammen mit dem finster dreinschauenden Michael, dem neuen und alles andere als sympathisch wirkenden Freund von Heather. Sie saßen an einem Tisch unweit des Tresens, steckten die Köpfe zusammen, rauchten Pfeife und bestellten eine Runde nach der anderen. Celia hatte sich hinter einem auf dem Gehsteig abgestellten Fuhrwerk versteckt, sodass sie die Männer aus der Deckung beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Weil der Tresenraum überdies hell beleuchtet war, während der Gehweg im Nebel lag, stand nicht zu befürchten, dass ihr Vater auf sie aufmerksam würde.

Sie hatte ihn tatsächlich gefunden! Endlich! Doch nun, da sie ihr Ziel erreicht hatte, wusste sie nicht, was sie tun und wie sie ihrem Vater begegnen sollte. Einfach in die Kneipe zu gehen, sich vor ihm aufzubauen und zu sagen: »Hallo, Vater, ich bin Celia!«, das erschien ihr absurd und unmöglich. Nicht zuletzt, weil dieser Michael dabei war, der sie einschüchterte, obwohl sie ihn überhaupt nicht kannte. Nein, lieber wollte sie abwarten und beobachten. Solange ihr Vater im Britannia saß und sie an Ort und Stelle blieb, konnte er ihr nicht entwischen. Wenn er dann den Pub verließe, könnte sie ihm nach Hause folgen und ihn ansprechen, sobald er allein wäre. Auch wenn ihr davor bang war, weil sie keine Ahnung hatte, was sie sagen sollte und wie er wohl darauf reagieren würde. Die Worte des Wirts in Southampton fielen ihr wieder ein: »Weil er nämlich nicht gefunden werden will!« Und seine Frau hatte hinzugesetzt: »Antworten gibt’s nicht umsonst.«

Und doch war Celia froh, dass sie hergekommen war. Sich hergetraut hatte. Mehrere Stunden hatte sie sich schon in der Gegend herumgetrieben, war immer wieder in die Dorset Street und zum Britannia Pub oder Ten Bells gegangen und hatte die Augen und Ohren offen gehalten. Im Ten Bells hatte Heather vor einigen Tagen Michael kennengelernt, in der Dorset Street wohnten die beiden, und vor dem Britannia hatte Celia, kurz vor ihrem Zusammenbruch, ihren Vater entdeckt. »Ein Nachbar«, wie Heather gesagt hatte. »Ein komischer Kauz!« Also war Celia den halben Tag lang stoisch von Ort zu Ort gegangen, rings um die Christ Church, immer darauf hoffend, irgendwo auf ihren Vater zu treffen. »Nicht ganz dicht in der Birne!« Auch das waren Heathers Worte gewesen.

Seitdem Celia ihrem Vater am Montag begegnet war, hatte sie an nichts anderes mehr denken können. Selbst in ihren wirren Fieberträumen war er ihr erschienen, zusammen mit den beiden anderen Männern, denen sie in den letzten Tagen so unerklärlich oft über den Weg gelaufen war. Als sie am Donnerstagmorgen endlich wieder halbwegs erholt und fieberfrei gewesen war, hatte ihr Beschluss festgestanden: Sobald Maureen am Abend die Wohnung verlassen würde, um im People’s Palace aufzutreten, wollte Celia nach Spitalfields gehen und Ausschau halten. Wie die Polizisten auf Streife, von denen es in der Gegend nur so wimmelte, seitdem der Ripper im East End sein Unwesen trieb.

Beinahe wäre es jedoch gar nicht dazu gekommen, denn Maureen wollte sie zunächst nicht allein lassen. Celia sei noch nicht gesund und könne jederzeit einen Rückfall erleiden. Und da Rupert Ingram nicht da sei, um in der Zwischenzeit auf sie aufzupassen, werde Maureen ihren Auftritt absagen und bei Celia bleiben. Sie könne ihr auch etwas vorlesen, wenn ihr denn der Sinn nach Büchern stehe.