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»Lesen schadet«, antwortete Celia grinsend und beschwor Maureen, doch bitte keine unnötige Rücksicht auf sie zu nehmen. Sie sei wieder gesund und bei Kräften, ihre Hand tue gar nicht mehr weh, auch das Fieber sei verschwunden. Und vor allem solle Maureen nicht ihretwegen auf ihre Gage verzichten. Celia wusste, dass Maureen pro Auftritt bezahlt wurde und ihr Honorar nur erhielt, wenn sie abends auf der Bühne stand. Celia meinte, es sei doch unsinnig, ihr beim Schlafen zuzusehen, wenn Maureen zur selben Zeit gutes Geld verdienen könne. Sie sei so müde, dass sie ohnehin früh zu Bett gehe. Und falls sie doch etwas benötige, könne sie ja Mrs. Adams im Dosshouse fragen. Deren Fett-und Zwiebelgestank werde sie schon überleben, wie Celia lachend hinzufügte.

Schließlich gab sich Maureen geschlagen, packte ihre Kostümtasche und verließ nach dem Abendbrot die Wohnung. Nur eine Dreiviertelstunde später stand Celia vor der Christ Church und begann ihre Runden. Mit Erfolg, wie sich inzwischen herausgestellt hatte.

Gebannt schaute sie durch das Fenster auf ihren Vater. Der Rauschebart, die hohe Stirn, die stattliche Figur – alles war eigentlich genauso, wie Celia es in Erinnerung hatte. Und doch hätte sie ihren Vater vermutlich niemals erkannt, wenn er sie am Montag nicht so seltsam angestarrt hätte. Wie eine Erscheinung. Wie einen Geist.

Auch jetzt war es vor allem der seltsame Ausdruck in seinen Augen, der Celia verwirrte und gleichzeitig in den Bann zog. Sein Blick erinnerte sie an den eines Hundes, zugleich treuherzig und gehetzt, zutraulich und doch lauernd, immer auf der Hut. Wenn Michael etwas sagte und dabei meistens zur Decke oder auf sein Bierglas schaute, dann klebte Vaters Blick regelrecht an ihm, er schien jedes Wort auch mit den Augen aufzusaugen. Doch sobald sich die Blicke trafen, starrte er schlagartig auf den Tisch, zu Boden oder auf seine Pfeife, als hätte er vor irgendetwas Angst. Als befürchtete er, durchschaut zu werden. Oder bestraft.

»Kannst du mich nicht anschauen, wenn ich mit dir rede?«, hatte ihre Mutter ihn früher immer wieder angefahren.

»Nein, kann ich nicht!«, hatte ihr Vater manchmal erwidert. »Du mit deinem verdammten Hexenblick! Da läuft’s einem ja kalt den Rücken runter!«

Celia erinnerte sich an eine Begegnung mit ihrem Vater, einige Monate bevor er die Familie verlassen hatte. Celia hatte von ihrer Mutter den Auftrag erhalten, den Vater aus der Kneipe nach Hause zu holen. Es war ein Sonntag im Januar, die Rennsaison war längst vorbei, und Ned Brooks verbrachte die meiste Zeit, wenn er nicht im Hafen arbeitete oder mit den Austernfischern auf See war, im Rosebud Pub am Hurst Green, dem Dorfanger am Rande von Brightlingsea. Celia sollte den Vater zum Essen holen. Mr. Hutchinson, der Nachbar, hatte ihnen ein Stück von dem Wildbret abgegeben, das er von seinem Sohn bekommen hatte, und weil es sonst nie Wildschweinbraten im Hause Brooks gab, sollte Celia dem Vater Bescheid geben. Damit der sich nachher nicht beschweren könne.

Celia war damals acht Jahre alt gewesen und hatte ihren Vater noch niemals beim Zechen in einem Pub erlebt. Entweder war er auf hoher See oder unten am Hafen, oder er lag betrunken und schnarchend auf dem Sofa, nur so kannte Celia ihn. Abwesend oder abweisend. Doch wie er sich unter Seemännern und Fischern in einer Kneipe aufführte, davon hatte Celia keine Ahnung. Umso überraschter war sie, als sie ihren Vater im Kreise der Nachbarn und Kollegen sah. Er erzählte gerade eine offenbar lustige Geschichte, fuchtelte gestenreich mit den Händen und lachte immer wieder laut auf. Auch die anderen Männer grölten und klopften mit den Knöcheln auf die Tischplatte.

Celia trat schüchtern an den Tisch und sagte: »Vater!«

Er hielt inne, schaute sie an und erstarrte. »Was?«, knurrte er.

»Das Essen ist fertig«, antwortete Celia und sah ihren Vater erschrocken an. »Es gibt Wildschweinbraten. Von Mr. Hutchinson. Also eigentlich nicht von Mr. Hutchinson, sondern von seinem Sohn. Mutter sagt …«

»Ja, ja«, unterbrach er sie und wedelte sie mit der Hand weg. Wie eine lästige Fliege.

»Aber Mutter meint …«, beharrte Celia und suchte den Blick des Vaters.

»Starr mich nicht so an!«, schnauzte er plötzlich. »Das hält doch kein Mensch aus.«

Celia verstand nicht und gefror zu Eis.

»Hast genau so einen Blick wie deine Mutter!«, rief er aufgebracht. »Kannst du nicht woanders hingucken?«

»Woanders?« Celia war nicht in der Lage, sich zu bewegen oder ihre Augen abzuwenden. »Wo soll ich denn sonst hingucken?« Die verzerrte Fratze ihres Vaters zog sie wie ein Magnet an, sie konnte nicht anders als hinschauen.

Und dann geschah etwas Seltsames. Ihr Vater seufzte und wandte sich ab, als könnte er ihren Anblick tatsächlich nicht länger ertragen. »Ich komme gleich«, murmelte er leise und hielt sich die Hand über die Augen, als würde er durch irgendetwas geblendet. Fast flehentlich setzte er hinzu: »Lass mich, Kind!«

Damals begriff Celia davon natürlich nichts und wunderte sich nur über das seltsame Verhalten ihres Vaters. Doch wenn sie heute darüber nachdachte, dann kam es ihr vor, als hätte er Angst vor ihr gehabt. Als wäre sie ihm regelrecht unheimlich gewesen. Und alles nur, weil sie ihn angeschaut hatte.

»Na, Mädchen«, wurde Celia durch eine krächzende Männerstimme aus ihren Gedanken gerissen. »So spät noch unterwegs? Solltest du nicht längst zu Hause sein? Es ist bereits nach Mitternacht.«

Celia fuhr erschrocken zusammen und atmete erleichtert auf, als sie einen mürrisch dreinschauenden Constable vor sich sah. »Danke, Officer!«, antwortete sie und versuchte zu lächeln. »Ich warte auf jemanden.«

Der Uniformierte schaute sie halb mitleidig, halb streng an und sagte: »Dies ist kein Ort, um nachts allein auf der Straße zu stehen.«

»Ich warte«, wiederholte Celia verstockt. »Danke, Sir.«

Der Constable knurrte abfällig, zog die Stirn kraus und ging weiter.

Celia schaute ihm nach und begriff erst jetzt, dass er sie vermutlich für eine Prostituierte gehalten hatte. Auch deshalb war sie erleichtert, als er gegenüber in die Church Street einbog, am Ten Bells vorbeiging und hinter der Kirche verschwand. Im selben Augenblick wurde hinter Celia die Tür zum Britannia aufgerissen, und ein Mann rief: »Schluss für heute! Raus mit euch!«

Oh nein!, schoss es Celia durch den Kopf, als sie herumfuhr und wieder zur Kneipe schaute. Das Britannia wurde geschlossen. Durch das Fenster konnte sie beobachten, wie die beiden Männer vom Wirt auf die Straße geschubst wurden.

Erst als Michael und ihr Vater draußen den Weg in Richtung Dorset Street eingeschlagen hatten, wagte sich Celia aus ihrem Versteck. Dabei trat sie versehentlich einem Straßenköter, der unter dem Fuhrwerk geschlafen hatte, auf den Schwanz. Mit einem Knurren sprang der Hund auf und raste davon. Celia ging blitzschnell wieder in Deckung.

»Was war das?«, fragte ihr Vater.

Zunächst glaubte Celia, er hätte sie trotz des Nebels entdeckt, doch als sie hinter dem Fuhrwerk hervorlugte, erkannte sie, dass die beiden Männer weiter in die andere Richtung wankten.

»Das werden wir gleich sehen«, sagte Michael.

Im nächsten Augenblick waren sie in einem Durchgang auf der rechten Seite verschwunden.

»Miller’s Court«, stand auf einem Schild über dem schmalen Torbogen. Das konnte Celia in der Dunkelheit und dem Nebel zwar nicht lesen, aber sie war im Laufe des Abends so häufig durch die Dorset Street gegangen, dass sie jedes Gebäude in der schmalen Gasse zu kennen glaubte. Michael und Heather wohnten weiter hinten in der Straße, wie sie sich zu erinnern glaubte, also musste sich im Miller’s Court die Wohnung ihres Vaters befinden. Und vermutlich würde Michael bald wieder auftauchen, um nach Hause zu gehen. Dann würde Celia sich ihrem Vater stellen. Würde ihn stellen. Komme, was da wolle.