Doch nichts geschah. Michael kam nicht wieder heraus. Kein Ton war zu hören. Also wagte sich Celia bis zum Torbogen vor und lugte vorsichtig in den Durchgang. Eine Laterne beleuchtete den dahinterliegenden Yard, doch das Einzige, was sie sah, war der Schatten eines Mannes, der mit dem Rücken zu ihr und breitbeinig am hinteren Ende des Durchgangs stand. Wie ein Wachsoldat. Der Größe nach zu urteilen, musste es sich um Celias Vater handeln. Von dem viel kleineren Michael war nichts zu sehen. Nur leise Stimmen drangen in diesem Augenblick durch die Dunkelheit. Zu leise, um die Worte zu verstehen.
Celia trat in den Torbogen und überlegte, ob sie ihren Vater ansprechen sollte, als dieser plötzlich den Durchgang verließ und in den Hof ging, wo er auf der rechten Seite in einer dunklen Nische verschwand. Es quietschte metallisch, und kurz darauf erschien ihr Vater wieder im Torbogen. In der Hand hielt er nun einen an beiden Enden gebogenen Stab, es sah beinahe aus wie der Schwengel einer Pumpe.
»Vater!«, wollte Celia sagen, doch ihre Stimme versagte.
Und im gleichen Augenblick schrie jemand ganz in der Nähe: »Scheiß auf Liz!«
Celia erschrak. Auch ihr Vater zuckte merklich zusammen. Er räusperte sich mehrmals, als hätte er einen Frosch im Hals, dann ging er mit großen Schritten nach hinten, wo der Hof so dunkel und der Nebel so dicht war, dass Celia nichts erkennen konnte. Langsam tastete sie sich durch den Durchlass, bis sie den engen Hof erreicht hatte. Zur Rechten befand sich eine Wasserpumpe ohne Schwengel, zur Linken eine flackernde Gaslaterne an einer Häuserwand, und am hinteren Ende des Yards glaubte sie mehrere Holzkabinen zu erkennen. Vermutlich die Latrine.
In diesem Moment stieß jemand einen spitzen Schmerzensschrei aus.
Kurz darauf hörte sie Michael rufen: »Mach schon!«
Und als Antwort brüllte Celias Vater wie von Sinnen. Es klang fast nicht mehr menschlich. Aus einer Wohnung im Vorderhaus, direkt neben dem Durchgang, hörte Celia unverständliche Geräusche. Dann war plötzlich alles still.
Celia hätte fortrennen sollen. Nur weg von hier. So schnell wie möglich. Zur Hauptstraße, wo die Polizisten Streife gingen. Zum Ten Bells, das vermutlich immer noch geöffnet war. Oder in die Hanbury Street, wo sie im Frauenasyl der Heilsarmee Zuflucht finden würde. Doch stattdessen schlich sie, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, in den hinteren Teil des Hofes und lugte um die Ecke. Dort stand die Tür zu einem fensterlosen Holzschuppen auf. Mattes Kerzenlicht erleuchtete das Innere.
Celia konnte kaum glauben, was sich dort ihren Blicken bot. In der winzigen Holzkammer befanden sich vier Personen auf engstem Raum. An der Rückwand lag irgendjemand auf einer Pritsche unter einer Decke und bewegte sich nicht. Michael hockte links von der Tür neben einem Holztisch auf dem Boden und hielt sich jammernd die rechte Hand, die seltsam deformiert aussah. Eine weitere Gestalt lag leblos im pelzbesetzten Mantel auf dem Boden, neben sich eine leere Schnapsflasche und einen Zylinder. Und Celias Vater stand über dem Leblosen und hielt den Pumpschwengel mit beiden Händen über dem Kopf, als wollte er ihn auf den Liegenden niedersausen lassen.
»Worauf wartest du?«, zischte Michael. »Schlag zu!«
Ihr Vater nickte, doch irgendetwas hielt ihn zurück. Vielleicht lag es daran, dass sich der Mann auf dem Boden gerade bewegt hatte.
»Los, du Schwachkopf!«, schrie Michael. »Er ist noch nicht hin!«
Celia stand reglos in der Tür und starrte wie gebannt auf die Szenerie. Niemand bemerkte sie, und selbst wenn, wäre es ihr egal gewesen, denn sie hatte gerade erkannt, wer dort mit blutendem Schädel auf dem Boden lag und ein dumpfes Stöhnen von sich gab. Ein junger Mann mit einem Herz auf der Wange, so groß wie eine Half-Crown-Münze. Rupert Ingram!
Was, um alles in der Welt, hatte der denn hier zu suchen? Was mochte das bedeuten? Und wieso wollte ihr Vater ihn umbringen? Alles drehte sich vor ihren Augen. Nichts ergab mehr Sinn. Die Welt war aus den Fugen. Das konnte doch alles nicht wahr sein.
Und darum schrie sie ihren Vater an: »Tu’s nicht!«
Er fuhr entsetzt herum, starrte sie an, wie er sie auch am Montag angestarrt hatte, und rief: »Mary!« Er wich zurück, bis er an die Holzwand stieß, ließ mutlos die Eisenstange sinken, schüttelte den Kopf und wisperte: »Kommst du mich jetzt holen?«
Celia wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Aber sie musste irgendetwas tun. Deshalb nickte sie wortlos, ging einen Schritt auf ihn zu und streckte die Hand aus, um ihm den Schwengel abzunehmen.
Doch Michael kam ihr zuvor. Er sprang plötzlich mit schmerzverzerrter Miene auf die Beine, entriss ihrem Vater mit der unverletzten linken Hand die Eisenstange und baute sich über Rupert Ingram auf, der in diesem Augenblick wieder zu sich kam, den Schatten über sich sah und in einer hilflosen Geste die Hände zur Abwehr hob.
Celia hatte es bereits die ganze Zeit dort liegen sehen. Direkt vor ihren Füßen. Ein Messer mit dunklem Horngriff und spitzer Schneide. Als hätte man es nur zu dem Zweck dorthin gelegt, dass sie es entdeckte und aufhob. Mit der linken Hand, weil die rechte noch verbunden war. Sie hielt das Messer, wie ihr Bruder Peter es ihr einmal gezeigt hatten: mit der Schneide nach oben und der Spitze nach vorne. Mit einer schnellen Bewegung stach sie zu, von unten nach oben. Einmal. In die Seite. Ganz ungewohnt, mit links. Dann, als Michael sich überrascht umwandte, noch einmal. Vor Schreck. In die Brust. Direkt unters Brustbein, wo das Messer stecken blieb. Die Eisenstange rutschte ihm aus der Hand und schlug mit einem dumpfen Geräusch auf dem nackten Erdboden auf.
»Wer, zum Teufel, bist du?«, raunte Michael und starrte sie verständnislos an, bevor seine Beine nachgaben und er rücklings auf dem Holztisch landete und samt Tisch und Kerze zu Boden ging.
Schlagartig wurde es dunkel.
2. RUPERT INGRAM
Eine Zeit lang blieb alles still. Nur unser heftiges Atmen oder Keuchen war zu hören. Ich versuchte zu verstehen, was sich soeben direkt vor meiner Nase abgespielt hatte, aber es wollte mir nicht gelingen. Ich wusste, was ich gesehen hatte, aber es ergab keinen Sinn. Irgendetwas passte nicht ins Bild. Gehörte nicht hierher. Und dann erkannte ich den Fehler.
»Celia?«, fragte ich und versuchte, mich aufzurichten. »Was machen Sie hier?« Eine törichte Frage, denn ich hatte ja gesehen, was sie gerade gemacht hatte. Und doch war es die einzig richtige Frage.
»Ich hab vorm Britannia gewartet«, sagte sie, obwohl das überhaupt keine Antwort auf meine Frage war. Ihre Stimme klang seltsam mechanisch und leblos.
Der Schmerz an meiner Schläfe war unerträglich. Jede Bewegung fühlte sich an, als landete erneut eine Eisenstange auf meinem Kopf. Lauter kleine platzende Glühlampen in meinem Schädel. Trotzdem rappelte ich mich mühsam auf, bis ich schließlich auf dem Hosenboden saß und meinen Rücken gegen das Bettgestell lehnen konnte. Von dort kam ein leises Schnorcheln, wie ich erleichtert feststellte. Heather lebte noch. Immerhin.
»Mary?«, fragte Edmund, der nach wie vor an der Bretterwand zu stehen schien.
»Nein, Vater«, sagte Celia mit ihrer mechanischen Stimme. »Ich bin’s. Celia.«
»Vater?«, wunderte ich mich und tastete meinen Kopf ab. Ich hatte eine stark blutende Platzwunde über dem Ohr, aber der Schädel war heil geblieben. Ich fragte: »Wieso Vater?«
»Celia?«, sagte Edmund und setzte nach einer Weile hinzu: »Ach so!«
Da erst verstand ich und fragte: »Du bist Ned Brooks?«
»Ich war Ned Brooks«, antwortete Edmund und räusperte sich.
Derselbe Ned Brooks, an den mein Vater vor zwanzig Jahren seine schwangere Geliebte verschachert hatte. Der Ehemann und Vater aus Brightlingsea, der seine Familie im Stich gelassen hatte. Der Seemann, der später Schiffbruch erlitten hatte und als Kannibale des Meeres im Penny Gaff aufgetreten war. Der Edmund Brooks, der vor vier Wochen Long Liz die Kehle durchgeschnitten hatte. Mit ebenjenem Messer, mit dem seine Tochter nun Michael niedergestochen hatte. Unfassbar! Und doch erschien es mir im selben Augenblick ganz logisch und folgerichtig. Als könnte es gar nicht anders sein.