Ich kramte die Streichhölzer aus meiner Manteltasche, entzündete eines und suchte den Boden nach dem Kerzenstummel ab. Er lag direkt neben Michaels leblosem Körper. Das Messer ragte wie eine Gaffelstange schräg aus seiner Brust. Nachdem ich die Kerze angezündet und auf den Boden gestellt hatte, fühlte ich Michaels Puls und war, wie ich gestehen muss, erleichtert, als ich keinen fand. Ich schickte ihm einen stummen Fluch ins Jenseits hinterher und schloss seine Augenlider. Zur Hölle mit ihm!
»Wir müssen zur Polizei!«, rief Celia, die unverändert vor der Tür stand und sich die verbundene Hand vor den Mund hielt. Es hatte den Anschein, als erwachte sie beim Anblick des Toten wie aus einem Traum und erkannte erst jetzt, was geschehen war.
»Nein!«, rief Edmund und starrte sie erschrocken an. Als sich ihre Blicke trafen, schaute er schlagartig zu Boden und setzte flehentlich hinzu: »Keine Polizei.«
»Aber er ist tot«, sagte Celia und machte einen Schritt auf ihren Vater zu.
»Lass mich!«, fuhr er sie an und wich vor ihr wie vor einer Spukgestalt zurück.
Celia hielt verwirrt und eingeschüchtert inne. Die Tränen standen ihr in den Augen, als sie sich umwandte und auf die Leiche deutete. »Ich hab ihn erstochen. Das musste ich doch.« Nun schaute sie Hilfe suchend zu mir. »Es war Notwehr, oder?«
»Natürlich war es das«, antwortete ich, während ich gleichzeitig die Eisenstange, die vor Edmund auf dem Boden lag, langsam mit dem Fuß zu mir heranzog. Damit er nicht etwa auf dumme Gedanken kam. »Selbstverständlich war es Notwehr. Er hätte mich erschlagen. Sie haben mir das Leben gerettet, Celia.« Ich schaute zu Edmund und setzte hinzu: »Aber wenn wir zur Polizei gehen, dann landet Ihr Vater am Galgen.«
Celia schaute mich verständnislos an und schüttelte sich plötzlich, als liefe ihr ein Kälteschauer über den Rücken. »Wieso?«, fragte sie und senkte den Kopf. »Ihnen ist doch nichts passiert. Jedenfalls nichts Schlimmes. Dass Vater Sie … dass er … das müssen Sie der Polizei doch nicht verraten.«
»Es geht nicht um mich, Celia«, antwortete ich und wusste nicht mehr weiter. Es war alles so verworren und kompliziert. So ausweglos. Wie sollte ich ihr erklären, dass ihr Vater, den sie die ganze Zeit gesucht hatte, ein kaltblütiger oder womöglich geistesgestörter Mörder war? Und wie sollte ich das der Polizei erklären und beweisen? Mit einem Artikel aus dem nicht gerade glaubwürdigen Star? Oder einem geheimnisvollen Ungarn, den niemand kannte? Wenn Edmund alles leugnete oder einfach den Mund hielt, konnte kein Mensch ihm etwas nachweisen. Der einzige Zeuge und Mittäter lag tot zu meinen Füßen. Und obendrein wusste alle Welt, wer Elizabeth Stride ermordet hatte: Jack the Ripper.
»Keine Polizei!«, wiederholte Edmund, doch diesmal klang es nicht furchtsam, sondern drohend. »Sonst sag ich denen, was ihr mit Michael und Heather gemacht habt. Dann seid ihr auch dran!«
»Heather?«, rief Celia und konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. »Ich versteh überhaupt nichts mehr. Was ist mit Heather?«
»Sie liegt dort auf dem Bett«, keifte Edmund und deutete auf Heather, die mit dem Gesicht zur Wand unter der Decke lag und von alledem nichts mitbekam. »Der Kerl hat ihr den Schädel eingeschlagen!«
Celia starrte mich entsetzt an, doch ich schüttelte nur den Kopf.
»Vater!«, rief Celia. Es klang wie ein verzweifelter Hilferuf.
»Nenn mich nicht so!«, fauchte er und schüttelte drohend die Faust. »Ich hab mit dir nichts zu tun. Ich kenn dich nicht. Lass mich in Ruhe!«
Celia schluchzte krampfhaft auf und sackte dann kraftlos am Türrahmen nach unten. Als sie auf dem Boden kauerte, vergrub sie das Gesicht in den Händen.
»Schluss damit!«, rief ich und stemmte mich mit Hilfe des Pumpschwengels in die Höhe. Es reichte! Es war genug! Der Irrsinn musste aufhören! Auf der Stelle. Deshalb baute ich mich vor Edmund auf und sagte: »Keine Polizei!«
»Sag ich doch«, erwiderte Edmund grinsend.
Am liebsten hätte ich ihm sein hämisches Lächeln aus dem Gesicht geschlagen, doch stattdessen fragte ich: »Hast du eine Schaufel?«
Plötzlich war alles ganz einfach. Wenn es keine Leiche gab, war niemand getötet worden. Und für den Fall, dass jemand nach dem Verschollenen suchen sollte, musste lediglich sichergestellt werden, dass er nicht gefunden wurde. Sobald ich die Entscheidung getroffen hatte, die Polizei nicht zu benachrichtigen, ergab sich alles Weitere beinahe wie von selbst. Die Möglichkeit, etwas zu tun und aus eigener Kraft aus dem Wirrwarr herauszukommen, war so verlockend und bestimmend, dass sie jeden Zweifel an meiner Entscheidung im Keim erstickte.
Michael musste verschwinden! Dann würden wir weitersehen.
Zunächst kam mir der Friedhof von Christ Church in den Sinn. Bestimmt gab es irgendwo auf dem Gelände ein frisches Grab, dem man ohne große Mühe eine zweite Leiche hinzufügen konnte, doch der Gedanke hatte einen Haken. Wie sollten wir den toten Michael zum Friedhof schaffen, ohne irgendwelchen Passanten, patrouillierenden Polizisten oder den Obdachlosen im Itchy Park aufzufallen? Sich allein auf den Nebel zu verlassen, erschien mir zu gefährlich. Nein, wir mussten die Leiche verschwinden lassen, ohne sie von der Stelle zu bewegen.
Und deshalb verlangte ich nach einer Schaufel.
Edmund schaute auf den gestampften Erdboden, schien sofort zu begreifen, was mir vorschwebte, und war mit allem einverstanden. Und das nicht nur, weil es ihm nützte und den Hals rettete, sondern auch weil es ihm ein regelrechtes Bedürfnis zu sein schien, Befehle zu empfangen und auszuführen – als wäre ich mit Michaels Tod an dessen Stelle getreten.
Celia hingegen wirkte wie betäubt. Sie schien nicht wirklich zu verstehen, was um sie herum vor sich ging. Kein Wunder, denn immerhin hatte sie noch vor wenigen Tagen mit hohem Fieber und halb ohnmächtig im Bett gelegen. Sie ließ alles wie ein kleines Kind über sich ergehen, völlig apathisch und willenlos. Seitdem Edmund sie angebrüllt hatte und sie schluchzend in sich zusammengefallen war, schienen jedes Leben und jeder eigene Antrieb aus ihr entwichen zu sein. Celia stand merklich unter Schock und war kurz davor, erneut in Ohnmacht zu fallen. In gewisser Weise war ich froh darüber. Vielleicht würden ihr die seltsamen Geschehnisse der Nacht am Morgen nur wie ein böser Traum erscheinen.
Zunächst befahl ich Edmund, mir zu helfen, Heather nach nebenan in sein Zimmer zu tragen. Dort war es wärmer, und außerdem brauchten wir Platz zum Graben. Ich bat Celia, sich zu Heather zu setzen und mir Bescheid zu geben, sobald sich an ihrem Zustand etwas änderte. Um einen Arzt für die Verletzte wollte ich mich kümmern, sobald die Leiche unter der Erde war.
»Wird sie sterben?«, fragte Celia, als wir Heather in Edmunds Bett legten.
»Nein, das wird sie nicht«, versicherte ich, obwohl ich das gar nicht mit Bestimmtheit sagen konnte. Ich hängte meinen Mantel an Edmunds Garderobe, neben der das Brennholz gestapelt lag, das vermutlich früher einmal in der Bretterbude gelagert worden war. Dann krempelte ich mir die Ärmel hoch, nahm eine Öllampe vom Tisch und machte mich an die Arbeit.
Edmund brachte mir eine Schaufel, die fürchterlich nach Exkrementen stank. »Vom Scheißhaus!«, sagte er, und wieder verzog sich sein Gesicht zu einem völlig unangebrachten Grinsen. »Für die Sickergrube.« Auf meine Frage, ob es noch eine zweite Schaufel gebe, schüttelte er den Kopf.
Es war inzwischen halb vier Uhr morgens, wie mir ein Blick auf meine Taschenuhr verriet. Bis zum Sonnenaufgang blieben uns noch ein paar Stunden. Edmund und ich schaufelten abwechselnd, bis wir völlig verschwitzt, von oben bis unten verdreckt und am Ende unserer Kräfte waren. Zum Glück wurde niemand in der Nachbarschaft durch das Kratzen und Schaben geweckt, zumindest meldete sich niemand oder kam gar herüber, um sich zu beschweren. Als die Grube schließlich tief und breit genug war, um Michael liegend darin zu begraben, fror ich am ganzen Körper und schüttelte mich ein ums andere Mal. Das war sicherlich auch der Müdigkeit geschuldet, doch als ich die Steinwand anfasste, merkte ich, dass sie eiskalt war.